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Die der Angst vor Lukaschenko trotzen

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Kein Platz steht so sehr für den friedlichen, kreativen und beharrlichen Charakter der belarussischen Proteste wie der "Platz des Wandels" in Minsk. Doch gerade hier statuiert Staatschef Alexander Lukaschenko ein Exempel der Gewalt.


Vor kurzem wurde hier noch getrauert, doch inzwischen ist der Platz leer. Keine Blumen, keine Kerzen mehr. Sogenannte "Sicherheitskräfte" haben den "Platz des Wandels" geräumt. Passanten, die hier Blumen niederlegen wollen, werden von der Polizei verscheucht.

Denn an den Tod von Roman Bondarenko darf nichts erinnern.

Noch am Sonntag war Olesja hier gestanden, inmitten eines Meeres aus Blumen und Kerzen. Die Menschen seien aus der ganzen Stadt gekommen, um Roman Bondarenkos zu gedenken. Die einen brachten Blumen. Die anderen Kerzen. Fotos, Gedichte, Plakate. Kuscheltiere. Sogar Pinsel und Deckfarbkästen, denn Roman Bondarenko malte gerne.

Auch Olesja legte am improvisierten Denkmal, der "Mauer des Gedenkens", Blumen nieder und weinte. Doch dann hörte sie Granaten. Es war die Polizei, die heranrückte, um die Menschentraube aufzulösen. Zwar hatten in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten immer wieder Sicherheitskräfte auf Protestierende mit Leuchtgranaten geschossen. Doch bei einem Trauermarsch? "Ihr habt einen von uns umgebracht", rief jemand in der Menge. "Dann bringt uns doch gleich alle um!"

Jede Revolution ist auch ein Kampf der Symbole. Der Ploschtscha Peramen, der "Platz des Wandels" in einem unscheinbaren Minsker Innenhof, inmitten von Plattenbauten, ist so ein Symbol. Während anderswo in Minsk Demonstranten abgeführt, Menschenansammlungen aufgelöst und sogar Kirchen gestürmt wurden, wurde hier jeden Abend getanzt, gesungen, gegessen und gefeiert.

Lange Zeit war es der Wohlfühlort der Revolution, das gallische Dorf des Widerstands. Zwar hatte es auch hier immer wieder Festnahmen gegeben, doch immer wieder kämpften sich die Anrainer mit Konzerten, Workshops und Spendenaktionen ein Stück ihrer Freiheit zurück. Bis letzten Mittwoch, als hier ein junger Mann von der Polizei niedergeknüppelt, in einen Bus gezerrt und dort offensichtlich so misshandelt wurde, dass er später seinen Verletzungen im Krankenhaus erlag. Er wurde 31 Jahre alt.

Mindestens der vierte Todesfall

Seither dominiert auch hier die Polizeigewalt. Am Sonntag, als sich wie Olesja Tausende in diesem Hinterhof versammelten, um des Toten zu gedenken, strömten schwer bewaffnete Polizisten auf den Platz, um die Versammlung aufzulösen. Wie Olesja konnte auch Zmicier Kaspiarowitsch gerade noch rechtzeitig fliehen, aber seine Ex-Frau wurde festgenommen, während sich seine Schwiegermutter, gemeinsam mit weiteren 40 Leuten in den Keller eines angrenzenden Hauses retten konnte. Die ganze Nacht, ohne einen Mucks zu machen, versteckten sie sich dort - aus schierer Angst, von den Polizisten entdeckt zu werden, die immer wieder mit Gummiknüppeln die Häuser durchkämmten. "Das ist der Beginn des totalen Polizeistaates", sagt Kaspiarowitsch zur "Wiener Zeitung".

Dieser Tod trifft die belarussische Protestbewegung in ihr Herz. Dort, wo früher Kinder auf dem Spielplatz tobten, abendliche Konzerte für fröhliche Lagerfeuerstimmung sorgten und sich der friedliche Widerstand gegen Lukaschenko selbst gefeiert hatte. "Heute ist der Krieg direkt zu uns in den Hof gekommen", schreiben Anrainer auf dem Instagram-Account des Platzes. "Morgen kommen sie, um uns in unseren eigenen Wohnungen zu verprügeln." "Ja wychoschu", "Ich gehe raus", waren die letzten Worte, die Bondarenko in einen Chat schrieb, bevor er im Hof mit den sogenannten "tichary", den staatlichen Schlägern ohne Hoheitsabzeichen, aneinandergeriet. Die Worte sind in Belarus zu einem Slogan der Proteste geworden, ein bisschen wie "I can’t breathe" der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA.

Seit Bondarenkos Tod haben viele Belarussen ihr Facebook-Profil auf Schwarz gestellt. An seinem Begräbnis nahmen am Samstag 5000 Menschen teil. Er ist mindestens das vierte Todesopfer der Proteste.

Wie kein zweiter Ort steht der "Platz des Wandels" für die Beständigkeit, den Mut, die Energie und auch die Kreativität dieser Proteste, die nun schon mehr als 100 Tage andauern - allen Repressionen, Drohungen und Festnahmen zum Trotz.

Die Geschichte dieses Ortes beginnt am 6. August, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen. Bei einer staatlichen Kundgebung entschieden sich die beiden Tontechniker Wladislaw Sokolowskij und Kirill Galanow, den Song "Peremen" (deutsch: Wandel) des sowjetischen Künstlers Wiktor Zoj aufzulegen und sich mit den Protesten zu solidarisieren. "Wandel, wir wollen endlich einen Wandel", heißt es in dem Song, der schon zu Perestrojka-Zeiten Kult war und inzwischen auch in Belarus zur Protesthymne geworden ist. Die nächsten zehn Tage verbrachten Sokolowskij und Galanow im Gefängnis, danach sind sie nach Litauen geflohen. Doch in Belarus werden die beiden seither wie Volkshelden gefeiert.

Wenige Tage später erschien im Hinterhof, dem inzwischen nach dem Song sogenannten "Platz des Wandels", auf einer Lüftungsanlage das Wandbild eines anonymen Künstlers, das die beiden Tontechniker zeigt, ein inzwischen ikonisches Bild der Proteste. Danach vollzog sich hier im Hinterhof immer wieder das gleiche Schauspiel: Von staatlichen Mitarbeitern wurde das Bild übermalt, doch die Anrainer zogen die Konturen wieder nach, entfernten die Übermalung, malten die Silhouetten neu. Wie die weiß-rot-weißen Bänder am Eisengitter, in den Farben der Protestbewegung, die den Spielplatz begrenzen und die immer wieder heruntergerissen wurden, die von den Anrainern aber immer wieder neu geknüpft wurden.

Mehr als 20.000 Inhaftierte

Lange stand der "Platz des Wandels" für die Beharrlichkeit, die Sisyphos-Arbeit der Protestbewegung. Doch inzwischen steht der "Platz des Wandels" selbst für den Wandel, den die Ereignisse genommen haben, für all die rohe Gewalt, Brutalität und Gnadenlosigkeit, mit der Lukaschenkos Sicherheitsapparat inzwischen bereit ist, gegen seine eigene Bevölkerung vorzugehen. Während es zu Beginn der Proteste noch Bilder gab von Frauen, die den Polizisten ihre Blumen in die Schilder stecken, wirken diese Szenen heute wie aus einer längst vergangenen Zeit. Heute durchkämmen Polizisten in Uniform und in Zivil die Häuser, auf der Suche nach Protestierenden, während sich diese in Keller oder Wohnungen vor der Polizei verstecken.

Die Repressionen haben selbst für das lange Zeit als "letzte Diktatur Europas" geltende Land inzwischen beispiellose Ausmaße angenommen. Schätzungen zufolge wurden seit dem 9. August, dem Tag der Präsidentschaftswahlen und der Wahlfälschungen, an dem sich die Proteste entzündet haben, zwischen 20.000 und 25.000 Menschen inhaftiert. Laut belarussischen Behörden sollen allein seit dem 1. September dieses Jahres 10.000 Bürger nach Polen, 3.000 in die Ukraine und 500 nach Litauen geflohen sein. Die Menschenrechtsorganisation Wiasna untersucht hunderte Fälle von Folter in den Gefängnissen und auf den Polizeirevieren, von den Behörden wurde indes kein einziger Fall von Polizeigewalt durchleuchtet. 121 Personen stuft Wiasna als politische Gefangene ein, darunter die Oppositionelle Maria Kolesnikowa.

"Lang lebe Belarus!"

Lukaschenko ist offensichtlich zu immer härteren Maßnahmen bereit, um die Proteste zu brechen. Wird aus dem "belarussischen Frühling" am Ende ein "belarussischer Winter"? In Nowaja Borowaja, einem Bezirk, dessen Bewohner sich bei den Protesten bisher besonders hervorgetan haben und wo viele weiß-rot-weiße Flaggen aus den Fenstern hängen, sind bereits 15.000 Anrainer drei Tage ohne fließendes Wasser. Ein Gebrechen im Wassersystem, wie es von offizieller Seite hieß. Im Stadtteil rund um den "Platz des Wandels" mehrten sich hingegen diese Woche die Berichte, das Festnetz-Internet sei ausgefallen. Begründung: technische Probleme. Alles nur Zufall?

Derweil ist in Minsk der erste Schnee gefallen. Es könnte ein kalter, düsterer Winter werden. Doch die Belarussen haben schon wieder neue Wege gefunden, um ihren Protest auszudrücken. "Schywe Belarus", "Lang lebe Belarus", den Schlachtruf der Proteste, schreiben sie in den Schnee, auf die Autoscheiben, in die Wiesen, und laden diese Botschaften in den sozialen Medien hoch.