"Der Titel ließe vermuten, dass vor der Pandemie alles in Ordnung war", sagte Moderator und "Wiener Zeitung"-Chefredakteur Walter Hämmerle zum Auftakt der Diskussionsveranstaltung unter dem Titel "Gefährdet das Virus die Demokratie? Grund- und Freiheitsrechte im Stresstest" am Donnerstagabend. Alles in Ordnung war in der Demokratie allerdings schon vor Corona keineswegs. So waren die Werte im seit 2006 veröffentlichten Demokratieindex des "Economist" bereits im Vor-Pandemie-Jahr 2019 die schlechtesten seit Beginn der Erhebung. Demokratie werde heute nicht mehr durch Militärputsche oder Revolutionen zerstört, sondern demokratisch gewählte Politiker höhlen sie von innen heraus aus, ist eine der Kernaussagen der "Economist"-Erhebung.

Schnappschuss aus dem Newsroom. - © Wiener Zeitung
Schnappschuss aus dem Newsroom. - © Wiener Zeitung

Diesem Befund stimmten auch die Demokratieforscher und Politikwissenschaftler Tamara Ehs und Wolfgang Merkel zu, die bei der Veranstaltung der "Wiener Zeitung" in Kooperation mit dem SORA-Institut über die Qualität heutiger Demokratien diskutierten. "Auch hierzulande gab es schon vor 2020 eine sukzessive Verschlechterung", sagt Tamara Ehs, die kürzlich das Buch "Krisendemokratie. Sieben Lektionen aus der Coronakrise" veröffentlicht hat. In internationalen Rankings war Österreich von den Spitzenplätzen der nordischen Länder stets ein gutes Stück entfernt – büßte in den vergangenen Jahren aber weitere Ränge ein. Kritisiert wird in den Rankings vor allem mangelnde Informationsfreiheit und Transparenz, nicht zuletzt in politisch heiklen Bereichen wie Parteienfinanzierung und Parteispenden. Im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen rutschte Österreich ebenso ab.

"Die Richtung, die wir seit einigen Jahren einschlagen, ist die falsche", sagt Ehs. Der aktuelle Weg führe nicht zu mehr Demokratie, sondern zu mehr Möglichkeiten autoritären Zugriffs. Deshalb dürfen Demokratie und Autoritarismus laut der Politologin auch nicht als Dichotomie gesehen werden. "Es gibt hier ein sowohl als auch." Dabei komme es zu schleichenden Veränderungen, die allerdings auch klare "Kippunkte" für die Demokratie beinhalten. "Die erkennen wir aber meistens erst, wenn sie schon passiert sind", sagt Ehs. Entscheidend sei deshalb, bereits bei der Tendenz wachsam zu sein.

"Hochgradig defekte Demokratien"

Ist die heimische Demokratie also in der Krise? "Der Begriff Krise ist auffallend schlecht definiert", sagt Wolfgang Merkel, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität in Berlin. Trotz der vielen Buchtitel, die mit diesem Schlagwort beginnen, habe es die Wissenschaft bislang nicht geschafft, schlüssig zu definieren, "ab wann eine Demokratie tatsächlich in der Krise ist". Die Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite Krisendemokratien, auf der anderen krisenresistente Demokratien, greift aber jedenfalls zu kurz, sagt Merkel: "Die Sehnsucht nach einer so klaren Grenze können und sollten wir auch gar nicht erfüllen."

Tatsächlich gebe es einen Qualitätsrückgang vieler Demokratien, auch innerhalb der EU. "Selbst Ungarn ist keine Diktatur, Polen noch etwas weniger", sagt Merkel. "Aber beide sind hochgradig defekte Demokratien." Besonders anfällig seien dabei die liberalen und rechtsstaatlichen Elemente – in turbulenten Zeiten noch stärker. Mit dem Begriff Krise sollte man vorsichtig umgehen, konstatiert Merkel. "Aber dass wir seit zehn Jahren einen Niedergang in der Qualität der Demokratie haben, ist Common Sense in der Gemeinde der Demokratieforscher."

- © Adobestock
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Was aber sind die Treiber dieses Niedergangs? Sozioökonomische Sicherheit, Absicherung gegenüber Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut seien nicht nur wesentlich für die Demokratiezufriedenheit, so Ehs. Sondern auch Voraussetzung dafür, dass sich Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie einsetzen. "Wir sprechen von einem entsicherten Jahrzehnt", sagt Ehs. Arbeitsplatz- und finanzielle Sicherheit habe stark abgenommen – auf Kosten stabil planbarer Zukunftsperspektiven. "Wenn die Zone der Verwundbarkeit größer wird, sinkt auch das Vertrauen in die Demokratie als solche", sagt die Demokratieforscherin. An dieser Stelle gäbe es einen "Zug ins Autoritäre" seitens der Wählerinnen und Wähler. Dass der im Steigen begriffen ist, wies in den vergangenen Jahren auch der jährliche Sora-Demokratiemonitor aus.

Kultureller Konflikt

"Die Hauptüberschrift dazu heißt Globalisierung", sagt Merkel. Sie habe unsere Gesellschaften vulnerabel gemacht und im Namen der "Effizienz der Märkte" Grenzen geöffnet. Diese "Neoliberalisierung" habe einerseits die Verteilungskonflikte vertieft. Andererseits auch eine kulturelle Auseinandersetzung befördert, die die alten Links-Rechts-Konflikte durchschneide. Sie verlaufe zwischen formal hoch gebildeten, gut situierten und weltgewandten "Kosmopoliten" einerseits, und stark national verankerten, der unteren Einkommenshälfte zugehörigen "Kommunitaristen". Dieser Konflikt führe zu gesellschaftlicher Polarisierung und Moralisierung. "Für diese beiden Gruppen gibt es nur noch ganz wenige Möglichkeiten zusammenzukommen", sagt Merkel. Das ließe Gesellschaften von innen erodieren.

Nun ist zu dieser bestehenden Gemengelage eine globale Pandemie hinzugekommen. Verschärft sie diesen kulturellen Konflikt noch oder macht sie ihn nur kenntlicher? Die Pandemie habe die Staaten stark auf den nationalstaatlichen Rahmen zurückgeworfen, weil Handlungsmöglichkeiten auf EU-Ebene noch nicht vorhanden seien, argumentiert Ehs. "Die europäischen Verträge geben das nicht her." Aber würde mehr Europa "in einer Krise wirklich funktionieren?", fragt Moderator Hämmerle. "Hätte das nicht zu noch mehr Chaos geführt, als es ohnehin schon gab?"

Die EU als Gebilde von 27 Staaten ist als politischer Akteur kaum handlungsfähig, ist Merkel überzeugt. Demnach sei es eine "Illusion – auch wenn man sich das wünschen darf –, dass Finnland, Rumänien, die Niederlande und Österreich gemeinsam an einem Strang ziehen". Umso mehr, weil Krisenmanagement "exekutivlastig" sei, zumal unter Zeitdruck entschieden werden müsse. Hier komme der Nationalstaat ins Spiel. Der Europagedanke habe dagegen gelitten.

Merkel: Opposition hat "abgedankt"

"Was aber gut funktioniert hat, war der unglaubliche Einschnitt in Grund- und Freiheitsrechte ohne großen Widerspruch", wirft Hämmerle ein. "Hat Sie das verwundert?" Nicht überrascht habe sie der geringe Einspruch seitens der Bevölkerung, antwortet Ehs. Was sie aber sehr verwundert habe, war das Auslassen der offiziellen Kontrollinstanzen. Die parlamentarische Kontrollfunktion der Opposition war zu Beginn der Krise "nicht vorhanden", sagt die Politologin. Das mangelnde Ausüben ihrer Kontrollfunktion seitens der Medien war für sie gar "schockierend" – insbesondere das Durchschalten sämtlicher Pressekonferenzen ohne kritische Einordnung. Auch juristische Einordnung habe sie in Zeitungen nur in Gastkommentaren gelesen.

Merkel schlägt in eine ähnliche Kerbe. Die Opposition habe abgedankt. In Deutschland habe das vor allem die Grünen als stärkste oppositionelle Kraft betroffen. "Die Verantwortung der Opposition ist es aber, Opposition zu sein", sagt Merkel. Die Medien hätten gar so etwas wie einen "Erziehungsauftrag" an sich genommen, nach dem Motto: "Wenn ihr nicht den Anweisungen folgt, werden schlimme Dinge eintreten." Als sich dann Protest außerhalb des Parlaments formierte, sprachen die Medien von "Leugnern" und "Covidioten", so der Politologe. Diskussion aber habe weitgehend gefehlt.

Auch in einer Pandemie treffe die Politik letztlich Wertentscheidungen, argumentiert Ehs. Dafür sei aber eine pluralistische Meinungsbasis wichtig. Nur auf sein engstes (Berater-)Umfeld zu hören, genüge nicht. Es brauche vielmehr institutionalisierte Foren, in denen auch Vertreter der Zivilgesellschaft zu Wort kommen. Ob das nicht eher Wunschdenken sei, fragt Hämmerle. Das entspreche schließlich nicht den aktuellen "Dynamiken unserer Wettbewerbsdemokratie". "Wir haben doch einen Auftrag zur stetigen Verbesserung der Demokratie", erwidert Ehs. Zu sagen, jetzt sei nicht die Zeit für mehr Demokratie, so als wäre das eine Art "Luxus für Ästheten" sei der falsche Weg. Auch gehe es nicht darum, sich etwas zu wünschen, meint Ehs. "Nein, man muss es einfordern." Merkel schlägt vor, statt des Werte-Begriffs besser von "Interessen" zu sprechen: "Ich würde mir wünschen, etwas weniger von Werten zu sprechen, wenn wir es nur schaffen, einigermaßen Gerechtigkeit und Fairness bei der Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen zu haben", sagt der Demokratieforscher.

Mitsprache entscheidend

Welche Lektionen aber bietet Corona, um auf die nächste Krise besser vorbereitet zu sein? "Wir sollten jedenfalls nicht so tun, als könnten wir einfach neue Institutionen finden, die all diese Probleme regeln", so der Politikwissenschaftler. Auf parlamentarischer Ebene könnte eine Art begleitender Unterausschuss hilfreich sein, der alle Gesetze nochmals überprüft. Den Bürgerinnen und Bürgern müsse man dagegen "die Gewissheit geben, dass sie mitentscheiden können", meint Merkel. Und das nicht nur alle vier Jahre bei Wahlen. Hier könne man über ständige Bürgerräte mit repräsentativem Charakter nachdenken, die zugelost werden, wie etwa in Irland. Dem Gefühl so vieler Menschen entgegenzuwirken, dass "die da oben" entscheiden und man selbst nicht mitreden kann, sei zentral, um auch das unterste Bildungs- und Einkommensdrittel wieder in die Beteiligung am demokratischen Prozess zurückzuholen. "Sonst sind wir eine Zweidrittel-Demokratie, die das unterste Bildungsdrittel ausschließt", sagt Merkel.