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Trotz allem ein sympathisches Inselvolk

Von Michael Schmölzer

Politik

Die Briten haben den EU-Verhandlern den letzten Nerv geraubt. Dennoch gibt es hundert Gründe, sie zu mögen.


Die Scheidung ist da, der Brexit ist vollzogen. Jahrelang wurde gestritten und gezerrt, blockiert, verzögert und getrickst. Jetzt ist die Trennung Großbritanniens von der EU endlich geglückt. Das britische Parlament billigte den Post-Brexit-Handelspakt zwischen Großbritannien und der EU. Königin Elizabeth II. stimmte dem Ratifizierungsgesetz zu und setzte es damit in Kraft. Und es ist Silvester, ein Anlass, die Korken knallen zu lassen - Corona-bendingt diesmal in kleinerem Rahmen.

Es ist auch ein Grund, auf die Briten anzustoßen. Die haben sich aus kontinentaleuropäischer Sicht in den letzten Jahren zwar nicht von ihrer besten Seite gezeigt. Aber das soll nicht heißen, dass wir den Insulanern jenseits des Ärmelkanals jetzt gram sind. Dem ist nicht so und es sei hier - wie auch schon vor über vier Jahren - festgehalten: Wir mögen die Briten auch weiterhin, die Schotten, die Waliser und die Engländer.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterzeichnet den Handelspakt.
© reuters/Johanna Geron

Also: Hoch lebe der Links- und der Kreisverkehr, die dreipoligen Stecker, die eigenartigen Längen- und Gewichtsmaße und die frühe Sperrstunde im Pub auch in Nicht-Coronazeiten. Ein Prosit auf die Klischees, die Postkarten-Motive, denen der voreingenommene Besucher scheinbar überall begegnet: Die doppelstöckigen Autobusse, die endlosen Reihen an gleichen Redbrick-Häusern, Baked Beans, das disziplinierte Schlangestehen. Unnachahmlich die typischen Spannteppiche im Badezimmer, die unpraktischen ovalen Türklinken und die getrennten Heiß-kalt-Wasserhähne an den Waschbecken.

Der Doppeldecker-Bus, ein englisches Postkarten-Klischee.
© unsplash/artiom vallat

Die klassischen britischen Schuluniformen gibt es auch immer noch. Sie verkörpern Zucht und Ordnung - das gefällt den Konservativen. Den Marxisten behagt, dass hier ein Schritt auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft vollzogen wurde: Die teure Marken-Jeans muss zuhause bleiben.

Warmes Bier nicht erhältlich

Ein ganz großer Glücksfall ist es, wenn das Bier dann wirklich noch warm und der Kaffee schlecht ist. Denn das hat mittlerweile Seltenheitscharakter. Was in Londons schicken Bars - sollten sie offen haben - serviert wird, braucht den Vergleich etwa mit Italien nicht mehr zu scheuen. Längst wird man auf der Insel kulinarisch landauf und landab bestens versorgt. Zu stolzen Preisen allerdings. Der nichtssagende Klumpen Fleisch mit weichgekochtem Gemüse und Minzsauce gehört der Vergangenheit an.

Die Queen gibt dem Vertragswerk mit der EU ihren Sanktus.
© reuters

Bleibt noch, die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Briten zu rühmen. Wer sich etwa mit Kinderwagen durch das altertümliche Londoner U-Bahn-System quälen muss, der kann sich vor "helpful people", die mit Rat und Tat bereit stehen und notfalls auch selber anpacken, kaum erwehren. Die Wiener sind hier eine Spur zurückhaltender.

Und auch das muss gesagt sein: Nirgendwo finden die Menschen schneller und unkomplizierter zueinander, nirgendwo sind Alters- und Klassenschranken so gründlich außer Kraft gesetzt wie im klassischen englischen Pub. Dass eine Begegnung hier derzeit nicht möglich ist, ist eine nationale Tragödie.

Dass die Briten europapolitisch gerne abseits stehen, haben sie in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen - was das eigensinnige Inselvolk nicht unbedingt unsympathisch macht. Wobei das unterkühlte Temperament, das den Engländern zugeschrieben wird, bei näherem Hinschauen ins Reich der Legenden verbannt werden kann. So hat niemand Geringerer als König Heinrich VIII. allein der heißen Liebe wegen dem Papst den Rücken gekehrt, eine eigene Kirche gegründet, die Scheidung eingereicht und mit Anne Boleyn die Dame seiner Wahl geehelicht. Dass er nebenbei den katholischen Kirchenbesitz der englischen Krone einverleibt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Gentleman und Berserker

Und wo stünde Kontinentaleuropa heute, wenn man in London nicht ein Auge darauf gehabt hätte, dass dort kein Staat zu mächtig wird - nicht die Franzosen, nicht die Russen und die Preußen schon gar nicht. Auch jetzt werden sie verlässlich dafür sorgen, dass Brüssel nicht zuviel politisches Gewicht bekommt. Diplomaten erwarten, dass London die Beziehungen zu den Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei intensivieren wird. Den Störenfrieden Europas, die die von Deutschland und Frankreich vorgegebene Generallinie regelmäßig unterlaufen.

Auch wenn der derzeitige britische Premier Boris Johnson nicht als Lichtgestalt in die Geschichtsbücher eingehen wird - Großbritannien kann mit beeindruckenden historischen Persönlichkeiten aufwarten: Winston Churchill etwa, Inbegriff britischer Entschlossenheit, der Hitler-Deutschland grimmig die Stirn bot und mit dem flachen Stahlhelm durch das zerstörte London stapfte.

Gut, auf manche typisch britischen Eigenheiten würde man unter Umständen gerne verzichten. Die frühe Pub-Sperrstunde sorgt dafür, dass schnell getrunken wird und sich höfliche Gentlemen in einer Geschwindigkeit, die man nicht für möglich halten würde, in torkelnde Berserker verwandeln. Einer ordentlichen Prügelei steht dann nichts mehr im Wege, das heimelige Pub wird zum Schlachtfeld. Dass die gefürchteten britischen Hooligans in schöner Regelmäßigkeit ganze Fußballstadien auseinandernehmen, ist eine Fortsetzung dieser britischen Schattenseite.

Hier aber hilft Corona. Die Epidemie hat dieses Problem zwar nicht auf Dauer gelöst, vorläufig aber beseitigt.