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Überwachen und Strafen

Von Gerhard Lechner und Michael Schmölzer

Politik

Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wurde zu Arbeitslager verurteilt. Dort erinnert vieles an den alten Gulag.


Wer sich in Russland mit Kritik an Präsident Wladimir Putin allzu weit aus dem Fenster lehnt, lebt gefährlich. Politische Widersacher wie den - ebenfalls nicht gerade zimperlichen - Oligarchen Boris Beresowski oder Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow hat der russische Langzeitherrscher ins Exil getrieben. Kritiker wie Oppositionspolitiker Boris Nemzow oder die Journalistin Anna Politkowskaja wurden erschossen, der russische Ex-Spion und Überläufer Alexander Litwinenko im britischen Exil mit Gift ermordet. Auch Putins unangenehmster Gegner, der Oppositionelle Alexej Nawalny, hat bereits einen Giftanschlag hinter sich.

Vor sich hat Nawalny eine Erfahrung, die der Oligarch Michail Chodorkowski oder die Frauen der Anarcho-Gruppe Pussy Riot bereits durchmachen mussten: das russische Straflager. Zumindest zweieinhalb Jahre wird der Oppositionelle, der Putin regelmäßig Korruption in ungeahntem Ausmaß vorwirft, dort verbringen müssen.

Schlafsäle statt Zellen

Mit westeuropäischen Gefängnissen haben russische Lager nur wenig zu tun. "Das russische Strafvollzugssystem unterscheidet sich grundlegend vom westlichen", sagt Russland-Experte Alexander Dubowy der "Wiener Zeitung". "Die Häftlinge sind - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht in zellenartigen Einrichtungen untergebracht, sondern in Schlafsälen mit Stockbetten", erklärt der Politologe von der Universität Wien.

Die Berichte von Ex-Häftlingen über die Zustände in diesen Straflegern sind erschütternd und erinnern an überwunden geglaubte Zeiten: So wird den Häftlingen die private Kleidung abgenommen, die Haare werden rasiert - sie sich wachsen zu lassen, ist verboten, wer mit Bartstoppeln von mehr als drei Millimetern erwischt wird, wird mit Bunkeraufenthalt bestraft.

 

Folter an der Tagesordnung

Es gibt jeden Tag Appelle, die Gefangenen müssen teils stundenlang stehen, auch bei eisigen Minustemperaturen. In einem Schlafsaal können an die 50 Leute Platz finden, die Toilette ist ein wenig anheimelndes Plumpsklo. Folter ist an der Tagesordnung. Ein häufiger Grund dafür: Beschwerde über die Haftbedingungen.

Auch die Korruption blüht. Mit Geld kann man sich bessere Haftbedingungen erkaufen. "Ein Grund dafür ist, dass über die Haftbedingungen nicht das Gericht, sondern die Leitung der Haftanstalt entscheidet", erklärt Dubowy. "In den Strafkolonien beobachtet jeder jeden. Die Justizwache verfügt über vergleichsweise wenig Personal, einzelne Häftlinge sind die Augen und Ohren der Beamten", führt Dubowy aus. Die Kontrolle gründe auf dieses Netz von Spitzeln und auf den sehr harten Strafen selbst für geringfügige Vergehen.

Der alte Gulag lässt grüßen

Die russischen Arbeitslager heute weisen in vieler Hinsicht Merkmale des alten Gulag oder auch jener Lager auf, in denen deutsche Kriegsgefangene arbeiten mussten. So ist die Zuteilung von Essensrationen häufig immer noch an die erbrachte Arbeitsleistung gekoppelt. Wer "besser" arbeitet, bekommt mehr zu essen, wer hier "schlechter" abschneidet, weniger. Oft wird auch mit Schlafentzug gearbeitet. Wer nicht zur Zufriedenheit des Wachpersonals arbeitet, muss neben dem Bett auf einem Hocker sitzen, darf sich aber nicht hinlegen. Diese Praxis ist vor allem für Frauen-Straflager dokumentiert.

Hellmut Gollwitzer, einer der unzähligen deutschen Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, beschreibt das Sowjet-System der Essenszuteilungen in seinen Erinnerungen. Er war in einem Lager in der Nähe von Brjansk, ringsum Wälder.

 

In den langsamen Tod

Die Gefangenen dort wurden in Brigaden zu je vier Mann eingeteilt und zum Holzhacken - unter Bewachung - in die Wälder geschickt. Wer 100 Prozent der geforderten Arbeitsleistung erbrachte, berichtet Gollwitzer, der bekam die volle Essensration zugeteilt, bei der man immer noch Hunger litt. Wer weniger leistete, der bekam weniger.

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Nur bei 110 Prozent der Arbeitsleistung hatte man die Chance, "gut satt" zu werden. Deshalb bildeten sich Brigaden aus Bauern, Holzarbeitern und "sonstigen Kraftkerlen", die die 110 Prozent locker schafften. Die Brigaden aus Friseuren und Angestellten waren chancenlos, wurden auf schmale Kost gesetzt, dadurch immer schwächer, leisteten immer weniger und bekamen noch weniger zu essen. Das führte häufig zum langsamen Tod.

Staat im Staat

Dennoch ist es nicht so, dass sich seit Sowjetzeiten, selbst seit den 1990er-Jahren, nichts zum Besseren geändert hat. Einige Strafrechtsparagrafen wurden entschärft, Amnestien ausgesprochen. Im Jahr 2000 saßen noch rund eine Million Russen im Gefängnis, 2016 waren es nur noch 650.000 Häftlinge. Dennoch hat Russland immer noch eine der höchsten Gefangenenraten in Europa. Die fast 1.000 Untersuchungsgefängnisse und Strafkolonien bleiben ein intransparenter Staat im Staat.