Zum Hauptinhalt springen

Lukaschenko vertreibt seine Technik-Elite

Von Gerhard Lechner

Politik
Weißrussische Programmierer sind weltweit gefragt.
© Reuters / Vasily Fedosenko

Die brutale Repression seit vergangenem August hat für Weißrusslands Präsidenten unangenehme Folgen: Die IT-Branche, Vorzeigeindustrie des Landes, wandert in Richtung Baltikum, Polen und Ukraine ab.


Cremefarbener Anzug, offenes Hemd, lässig-professionelle Haltung: Als Waleri Tsepkalo vor mehr als zehn Jahren der "Wiener Zeitung" in Minsk zu einem Gespräch gegenübersaß, machte er nicht gerade den Eindruck eines Apparatschiks, der in Weißrussland unter dem autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko Karriere gemacht hat. Dabei hatte der damals 44-jährige Tsepkalo bereits eine ansehnliche Laufbahn in den Vorzimmern der Macht hinter sich: Botschafter Weißrusslands in den USA in den 1990er Jahren, Assistent von Lukaschenko - und seit 2005 Leiter des "Hi-Tech-Parks", der ein weißrussisches Softwarewunder stimulieren sollte - inmitten des immer noch in weiten Teilen staatswirtschaftlichen Belarus.

Die Sonderwirtschaftszone, Tsepkalos "Baby", entwickelte sich zu einem beispiellosen Erfolgsmodell: Bereits vor zehn Jahren verwendeten Unternehmen wie Peugeot, Mitsubishi, Coca-Cola oder BP Software, die in Minsk entwickelt wurde. In westlichen Medien war von Belarus bis vor kurzem als "IT-Hongkong" und Silicon Valley Osteuropas die Rede, das Land entwickelte sich zu einem wichtigen Outsourcing-Hub für westliche IT-Konzerne - kein Wunder: Die Gehälter sind niedrig, es gibt viele junge Talente, die in den gefragten naturwissenschaftlich-technischen MINT-Fächern gut ausgebildet sind, und der ansonsten ziemlich unflexible, plan- und staatswirtschaftlich geprägte Staat gewährt der IT-Branche erhebliche Steuervorteile.

100.000 IT-Spezialisten

Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Im September 2020 gab es in Belarus etwa 1.700 IT-Unternehmen mit rund 100.000 Mitarbeitern. IT-Giganten wie Google setzen auf Forschungs- und Entwicklungszentren in Minsk, aber auch weißrussische IT-Firmen boomen - wie etwa der Spieleentwickler Wargaming, der mit "World of Tanks" eines der profitabelsten PC-Spiele weltweit entwickelt hat. Mehr als 90 Prozent der IT-Dienstleistungen werden von ausländischen Kunden genutzt und bringen dringend benötigte Deviseneinnahmen ins Land. 2018 erwirtschaftete der IT-Sektor 5,7 Prozent des weißrussischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) - das ist etwa gleich viel wie der Bausektor (5,4 Prozent) oder der Transportsektor (5,8 Prozent). Das IT-Exportvolumen pro Kopf ist in Belarus doppelt so hoch wie in den USA und fast sechsmal so hoch wie in China.

Vor Beginn der aktuellen politischen Krise wurde prognostiziert, dass der IT-Sektor 2022 ganze zehn Prozent des weißrussischen BIP tragen könnte. Doch das war vor den Vorkommnissen rund um die mutmaßlich grob gefälschte Präsidentenwahl im Vorjahr. Die brutale staatliche Repression hat die Lage verändert - auch im IT-Sektor.

 

Geschützte IT-Enklave

Symbolhaft dafür steht die Vita Tsepkalos. Der wirtschaftsliberale Manager, von Lukaschenko 2017 als Leiter des Hi-Tech-Parks entlassen, wollte bei den Wahlen im August gegen den Staatschef antreten. Die Kandidatur wurde ihm aus fadenscheinigen Gründen verweigert. Kurz vor der drohenden Festnahme setzte sich Tsepkalo nach Moskau, später nach Kiew ab. Seine Frau Weronika, mit Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa Teil des oppositionellen Frauen-Trios, musste später ebenfalls fliehen. Der ehemalige Mitarbeiter Lukaschenkos ist heute ein erbitterter Gegner des Präsidenten und sucht über den Social Media Dienst Telegram, Einfluss auf die Geschehnisse in Belarus zu nehmen.

Dass mit Tsepkalo der Begründer des weißrussischen IT-Wunders außer Landes getrieben wurde, passt zu dem, was sich in den vergangenen Monaten in Belarus abgespielt hat. Denn die Enklave der Freiheit, die die IT-Industrie in Weißrussland florieren ließ, gibt es nicht mehr. Vor 2020 haben viele IT-Beschäftigte in einer Art inneren Emigration gelebt. Sie kamen kaum mit den Behörden in Kontakt und waren vor dem Druck des Staates geschützt.

Gefahr für das Regime

Die Repression bereits vor der Wahl, das Wegsperren und Vertreiben der Gegenkandidaten, darunter der IT-Symbolfigur Tsepkalo, schließlich die staatliche Gewalt seit dem Wahltag haben die Stimmung gedreht. Viele IT-Mitarbeiter schlossen sich der Protestbewegung an. So gründeten sie etwa Start-ups, um die Stimmauszählung zu überwachen. Der Staat reagierte mit eiserner Hand: Nach dem Wahltag ließ Lukaschenko drei Tage lang dort, wo die Proteste stattfanden, das Internet abschalten - ein Schritt, der die Wirtschaft rund 170 Millionen Dollar kostete und der auch ein indirektes Eingeständnis war, dass die IT-Affinität junger Weißrussen zur Gefahr für das altsowjetische Regime wurde.

Was noch schwerer wog, war der Druck durch das Regime. Viele Büros in- und ausländischer Firmen wurden durchsucht und Mitarbeiter festgenommen. Betroffene sprachen von Fällen von Folter und Verfolgung von Familienangehörigen.

 

Lukaschenko hat viel zu verlieren

All das löste naturgemäß Reaktionen in der weißrussischen IT-Community aus. Im Hi-Tech-Park gab es viele Solidaritätsaktionen, Protestbriefe gegen die Gewalt der Staatsführung wurden aufgesetzt. Staatliche TV-Sender wurden gehackt: Videos tauchten auf, die Polizeigewalt zeigten, und Interviews mit Folteropfern. Die stille Übereinkunft zwischen Regime und IT-Szene, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen, ist aufgekündigt.

Die Staatsführung hat dabei mehr zu verlieren als die IT-Szene. Denn die Wirtschaftslage Weißrusslands ist nicht gerade rosig: In den vergangene Jahren ist die Auslandsverschuldung stark gestiegen, immer wieder kam es zu Währungskrisen. Das belarussische Wirtschaftswunder der Nullerjahre ist längst Geschichte. Einzig der IT-Sektor, laut dem weißrussischen Politologen Artjom Schraibman eine Art "Seoul inmitten von Pjöngjang", ist mehr als herzeigbar und polierte auch das angeschlagene Image des Landes auf.

Die High-Tech-Exporte minderten zudem die Abhängigkeit von Russland, die in anderen Branchen eklatant ist: 2019 gingen 49,1 Prozent dieser Exporte Richtung Europa, 44 Prozent in die USA und nach Kanada - und nur ein Prozent nach Russland. Die Programmierer sind somit auch enorm wichtig für die belarussische Politik und für seine prekäre Unabhängigkeit.

Exodus der Jugend

All das ist jetzt akut in Gefahr. Denn die weißrussische IT-Szene kehrt dem Land den Rücken. Einige tausend junge und mobile Programmierer haben sich bereits ebenso abgesetzt wie wichtige Firmen. Und an Angeboten für Fachkräfte fehlt es wahrlich nicht: Die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine werben offensiv um Programmierer aus Weißrussland. IT-Hubs sollen Unternehmen die Verlegung ihres Standorts schmackhaft machen, geringen Bürokratieaufwand und niedrige Steuern gibt es auch hier. Polen bietet wechselwilligen Weißrussen Visafreiheit an, die Ukraine, die ebenfalls bereits ein kleines IT-Wunder nach weißrussischem Vorbild geschaffen hat, verfügt zusätzlich über den Vorteil, dass auch dort - wie in Belarus - Russisch gesprochen oder jedenfalls verstanden wird.

Für Lukaschenko sind das keine guten Nachrichten. In den letzten Jahren sind ohnedies viele gut ausgebildete junge Leute ins Ausland abgewandert. Der IT-Sektor hat manche von ihnen noch im Land gehalten - trotz der bedrückenden politischen Situation. Mit den Repressionen hat sich diese Lage geändert. Das junge, moderne Belarus wandert in die Nachbarländer ab. Was bleibt, ist das Weißrussland der Vergangenheit, das Land der Traktoren und Kolchosen. Das sich mit der Vertreibung der Erfolgsbranche aber auch den Ast absägt, auf dem es sitzt.