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Das niederländische Modell in der Krise

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

Bei den derzeit laufenden Parlamentswahlen in den Niederlanden steht Stabilität im Vordergrund. Doch die Ruhe ist trügerisch: Hinter der ruhigen Fassade bricht sich ein von Identitätsfragen angeheizter Verteilungskampf Bahn.


Autos, die in Flammen aufgehen. Geplünderte Geschäfte. Drei Abende lang heftige Konfrontationen zwischen einem scheinbar ziellos randalierenden Mob und der Polizei. Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, bei denen es ebenfalls zu Gewalt und dem Einsatz von Wasserwerfen kommt. Ein Krankenhaus in Enschede, das mit Steinen beworfen wird. Eine Corona-Teststraße im kleinen Fischerstädtchen Urk, die abgefackelt wird.

Ende Jänner bieten die Niederlande einen chaotischen Anblick. Trotz Pandemie werden internationale Kamera-Crews geschickt: "Wir wollen über die Unruhen berichten", heißt es erwartungsvoll. Korrespondenten bekommen Angebote, mit ihnen an die innerstädtischen Fronten zu ziehen, abends, kurz vor der Sperrstunde. Selbstverständlich mit Security-Personal, denn auch zu Angriffe auf Journalisten kommt es in diesen Wintertagen.

Mit den Ausschreitungen im Jänner bricht sich etwas Bahn, das schon länger im Bauch dieser Gesellschaft rumort. Doch die Suche nach der Ursache führt schnell in ein Dickicht aus vielen Konfliktsträngen. Und wer wen mit dem Funken der Militanz ansteckt, ist schwer zu sagen.

Sechs Wochen später erscheint all dies wie der Widerschein eines fernen Feuers. Am Montag haben in den Niederlanden die Parlamentswahlen begonnen, die wegen der Corona-Pandemie diesmal bis Mittwoch dauern. Und alle Zeichen stehen auf Stabilität und Konsolidierung. Premier Mark Rutte und seine VVD haben einen massiven Vorsprung in allen Umfragen. Sonderlich beliebt sind sie nicht, aber als Krisenmanager weitgehend angesehen. Dazu kommt die politische Kultur, die tief verwurzelt ist im gemäßigten, bürgerlichen Milieu, liberal nicht zuletzt im wirtschaftlichen Sinn. Der Ausgang der Wahl ist daher recht vorhersehbar.

Das Verhältnis zur "overheid"

Unabhängig davon lohnt ein Blick auf die Ränder dieses Mainstreams, denn dort werden in den kommenden Jahren die großen gesellschaftlichen Debatten geführt und Konflikte ausgetragen. Wie fest die kommende, mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut rechtsliberal angeführte Regierung im Sattel sitzen wird, hängt zu einem großen Teil von ihnen ab. Ein wesentlicher Punkt in dieser Gemengelage ist dabei das Verhältnis zwischen Bevölkerung und dem, was man hier "overheid" nennt: den Staat und seine Institutionen und Behörden. Mit der vermeintlichen "Kluft zwischen den Leuten und Den Haag" befeuern Rechtspopulisten seit zwei Jahrzehnten ihre Kampagnen. Doch die Entfremdung, die um den Jahreswechsel in der "Kindergeld-Affäre" ihren Ausdruck fand, geht tiefer: Die systematischen behördlichen Schikanen gegen Unterstützungsempfänger wegen vermeintlichen Sozialbetrugs trieb tausende Eltern in die Verschuldung, vielen von ihnen standen sogar vor den Trümmern in ihrer Existenz.

Eine Untersuchungskommission ist mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass bei der Affäre um angeblich zu viel ausbezahlte Kindergeldzuschläge die "Grundprinzipien des Rechtsstaats" verletzt und Bürger nicht vor einer allmächtigen Verwaltung geschützt worden seien. Doch der Skandal, der neuen Hinweise zufolge noch viel größer sein dürfte als bisher bekannt, kostet Rutte aktuell kaum Stimmen. Denn die Hauptempfänger der Kindergeldzuschläge, also berufstätige Eltern mit niedrigem Einkommen, gehören ohnehin nicht zum Elektorat der VVD.

Rutte, der wohl vor seiner letzten Amtszeit steht, weiß, allerdings dass seine Ankündigung, das Zulagensystem grundlegend zu erneuern, eine Messlatte wird, wenngleich auch eher für seinen Nachfolger. Denn schon jetzt ist absehbar, dass die Bewältigung der Pandemie unweigerlich zu neuen Verteilungskämpfen führen wird. So werden in den Niederlanden in den kommenden Jahren etwa 300.000 neue Wohneinheiten gebraucht werden. Schon jetzt herrscht im Land allerdings Wohnungsnot und für Sozialwohnungen in den großen Städten gibt es jahrelange Wartelisten. Zahlreiche Menschen im Land hofften zudem vergeblich darauf, dass sich die wirtschaftliche Erholung nach der überstandenen Finanz- und Bankenkrise in einer Art internem "Trickle-down"-Effekt auch in ihren Portemonnaies spüren lässt.

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Im ärmeren Teil der Bevölkerung ist bereits sichtbar, wie diese Konstellation als Zentrifuge wirkt: "Die Linke hat die Armen verloren", analysiert Eddy Terstall, ein Amsterdamer Filmemacher und aufmerksamer Beobachter von Politik und Gesellschaft. "Die Alteingesessenen wählen die rechtspopulistische PVV von Geert Wilders, die Zugewanderten DENK. Das ist eine identitäre Entscheidung. Diese Menschen haben kein Geld und werden auch keins bekommen, also wählen sie eine Kultur."

Hohes Empörungspotenzial

Tatsächlich sind Identität und Kultur Themen, die die Niederlande immer mehr umtreiben - und in zunehmend heftigeren Auseinandersetzungen münden. Zum einen zeigt sich dies in bei Migranten beliebten Parteien wie der oben genannten DENK, die ein multikulturelles Image pflegt und mit latenter Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auffällt, oder der NIDA, die linke Inhalte und Rhetorik mit "islamischer Inspiration" vereint und fordert, die Beleidigung des Propheten strafbar zu machen, und mit einer entsprechenden Petition 125.000 Unterschriften holt.

Daneben hat sich im Zuge der "Black Lives Matter"-Demonstrationen im letzten Sommer eine äußerst symbolbezogene Debatte um Rassismus entwickelt, in der auch die weitgehend unaufgearbeitete Kolonialvergangenheit mit einiger Vehemenz in den Blickpunkt rückte. Ihre Dynamik erinnerte an den langjährigen Konflikt um den rassistischen Gehalt des populären schwarzen Nikolaus-Begleiters "Zwarte Piet", der zu einer chronisch offenen Wunde im Diskurs mit hohem Empörungspotenzial und enormer Explosivität geworden ist.

Auf der rechten Seite des Spektrums hat auch diese Auseinandersetzung zur Ausbreitung jener kulturellen Wagenburg-Mentalität geführt, die das identitäre Forum voor Democratie (FvD) bei den Senatswahlen 2019 zur stärksten Partei gemacht hat. Nach einigen Rassismus-Skandalen ist das FvD inzwischen wieder auf seine vorherigen Dimensionen von einigen Parlamentssitzen geschrumpft. Dennoch finden sich Anhänger und Agenda der Partei, die unverhohlen mit Altright-Aktivisten und QAnon-Gläubigen flirtet, auf zahlreichen Protesten in der jüngeren Vergangenheit des Landes, seien es nun Bauern-Kundgebungen oder Demonstrationen von Gelbwesten, Klima- und Corona-Leugnern. In letzterem Umfeld zeigen sich zudem auch immer deutlichere Verbindungen zur Querfront, einem amorphen Schulterschluss zwischen Rechtsextremen, Trump-Fans, Esoterikern und Alternativen und Wutbürgern.

Die Entwicklung auf beiden Seiten wirkt damit wie ein Fanal für eine Zeit, in der Stabilität zu allervorderst ein Slogan der Politiker ist. Denn in ihrer Unübersichtlichkeit und inhaltlichen Uneindeutigkeit erinnert die gesellschaftspolitische Gemengenlage in den Niederlanden an die zu Jahresbeginn eskalierten Proteste.