Am 26. April 1986 nahm das Schicksal in Tschernobyl seinen Lauf. Nach einem simulierten nächtlichen Stromausfall schlug die Notabschaltung des Reaktorblocks 4 fehl - um 1.23 Uhr geriet die Anlage außer Kontrolle und explodierte.

Tschernobyl und die gesperrte Zone, Relikte aus Utopia. Bildband von Frank Brück, Olaf Düber, Martin Kaule, und Ralf Pageler. Erschienen am 19. April 2021, 34,35 Euro. Orte der Geschichte e.V. Verlag
Tschernobyl und die gesperrte Zone, Relikte aus Utopia. Bildband von Frank Brück, Olaf Düber, Martin Kaule, und Ralf Pageler. Erschienen am 19. April 2021, 34,35 Euro. Orte der Geschichte e.V. Verlag

Die Folgen sind bekannt: Nicht nur der Norden der Ukraine wurde verstrahlt. Die radioaktive Wolke traf vor allem Weißrussland, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavien und Westeuropa. Vier Tage nach dem Unglück wurde dort eine 45-fach erhöhte Radioaktivität gemessen.

Österreich war witterungsbedingt besonders belastet. Heute sind die Böden immer noch mit radioaktivem Cäsium-137 verseucht, die höchsten Werte verzeichnen Gebiete in Oberösterreich, Kärnten, Salzburg und der Steiermark. Kiew, nur 150 Kilometer südlich von Tschernobyl, ist kaum betroffen.

Die Sowjetführung verschwieg tagelang das Ausmaß der Katastrophe. Zwischen 500.000 und einer Million Liquidatoren wurden zwangsverpflichtet, die meisten von ihnen junge Soldaten. In Minuten-Einsätzen bauten die ahnungslosen Männer eine provisorische Schutzhülle um den Reaktorkrater und entsorgten verstrahltes Material. Viele erkrankten schwer.

Wie viele Menschen in Folge der Katastrophe gestorben sind, ist umstritten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht von tausenden Opfern aus. Die unmittelbar am Reaktor gelegenen Orte wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion evakuiert, das verseuchte Gelände wurde weiträumig abgesperrt. Tschernobyl - ein Ort, wo niemand hinwollte.

Touristenbusse stauen sich

Das hat sich gründlich geändert, wie Martin Kaule vom deutschen Verein "Orte der Geschichte" weiß. Er hat in den vergangenen Jahren viele Gruppen durch das Sperrgebiet geführt. Noch vor einiger Zeit habe es wenige tausend Interessierte pro Jahr an den Unglücksort gezogen, sagt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". 2019, vor Ausbruch der Corona-Krise, seien es dann 120.000 Menschen gewesen. Von einer "nuklearen Wüste" könne keine Rede mehr sei, so Kaule, der von "Rummel" spricht und davon, dass sich am Checkpoint fallweise die Touristenbusse stauen.

Am Eingang zur Sperrzone müssen die Besucher unter anderem darauf hingewiesen werden, dass es sich hier keinesfalls um eine Version von Disneyland handle. Die Schaulustigen, weiß Kaule, kommen großteils aus Großbritannien, aus den USA, aus Deutschland und den Benelux-Ländern. Drei Viertel davon, so die Einschätzung Kaules, reisen an, um das Gruseln zu lernen und mit entsprechenden Bildern auf den Sozialen Medien zu prahlen. Und die Ukrainer haben erkannt, dass hier Geld zu machen ist. Es gibt Cafés und Souvenircontainer.

Die Aktivitäten seines Vereins grenzt Kaule davon klar ab. "Wir wollen an Orte, wo sich Weltgeschichte abgespielt hat", betont er. Das historisch interessierte Publikum erkenne man daran, dass es zwei bis drei Tage bleibe und sich häufig auch für die einzigartige Flora und Fauna in der Sperrzone interessiere.

Die Touristen werden von Guides über festgelegte Routen zum Ort der Katastrophe geführt, mittlerweile ist auch die Schaltwarte des Reaktors zu besichtigen. Durch einen neuen Sarkophag um den Krater ist das Gelände jetzt weit weniger verstrahlt als noch vor einigen Jahren. Trotzdem erhält jeder Besucher seinen persönlichen "Dosimeter", der das Ausmaß der Verstrahlung misst.

Geschossen wird hier nicht

Abseits davon, erzählt Kaule, der jetzt einen Bildband auch mit historischen Fotos über Tschernobyl herausgegeben hat, werde das Gelände von sogenannten "Stalkern" als "Abenteuerspielplatz" benutzt. Diese hauptsächlich ukrainischen Jugendlichen würden abseits der erlaubten Wege auf Entdeckungsreise gehen, es komme auch zu Vandalismus. "Die beschmieren Wände, um gegen den Touristen-Ansturm, von dem sie sich gestört fühlen, zu protestieren", berichtet Kaule. Zudem gibt es eine international gut vernetzte "Urban-Explorer"-Szene, es reisen Jugendliche auch aus dem Ausland an. Die Betreiber der Gedenkstätte setzten sich mit Sicherheitsleuten und Kameras zur Wehr.

Das radioaktiv verseuchte Gebiet wurde nach dem Unglück je nach Grad der Kontamination in vier Zonen unterteilt. Zone 4 ist jetzt wieder freigegeben, hier haben sich Binnenflüchtlinge aus der umkämpften Ostukraine angesiedelt. Die immer noch beträchtliche Strahlung stört diese Siedler nicht, die Hauptsache für sie ist, dass hier nicht geschossen wird. Diese Pioniere hoffen, in Zukunft ebenfalls von dem florierenden Katastrophen-Tourismus profitieren zu können.