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"Los von London" lautet die Devise in Schottland und Wales

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Wahlreigen als erster großer Stimmungstest nach dem Brexit. In Schottland und Wales herrscht Aufbruchstimmung.


Erstmals seit den Unterhauswahlen von 2019, bei denen der Brexit-Vollstrecker Boris Johnson triumphierte, sind die Wähler in England, Schottland und Wales an die Wahlurnen gerufen. Im vorigen Mai, während der katastrophalen ersten Covid-Welle, fielen alle Kommunal- und Regionalwahlen in Großbritannien aus. Die jetzt nachgeholten Wahlen zusammen mit den neu fälligen machen den Wahlgang am Donnerstag zu einem der größten seit vielen Jahrzehnten.

"Super Thursday" haben die britischen Medien ihn getauft. Annähernd 5.000 Stadt- und Kreisräte quer durch England und sieben Region-Bürgermeister (die sogenannten "Metro-Mayors") müssen neu gewählt werden. In London, der größten Kommune Westeuropas, steht die Neuwahl der Stadtversammlung und des Londoner Bürgermeisters an. Mit Spannung wird der Ausgang dieses ersten landesweiten Stimmungstests seit dem Brexit-Vollzug und dem Beginn der Pandemie erwartet.

Khan in London vor Wiederwahl

In London selbst dürfte es kaum einen Wechsel geben. Labour-Bürgermeister Sadiq Khan, der erste moslemische Mayor an der Themse, weiß sich ziemlich sicher in einer Stadt, die relativ jung, ethnisch divers und weitgehend proeuropäisch ist. Dagegen zeichnen sich in Nordengland, wo Johnsons Konservative 2019 unterm Brexit-Banner tief ins alte Labour-Stammland vorstießen, vielerorts bittere Machtkämpfe ab.

Sir Keir Starmer, der im April vorigen Jahres an die Spitze der Labour Party rückte, hat sich schwer getan gegen die Tories - er muss befürchten, nun sogar den immer schon "roten" Wahlkreis Hartlepool in Nordostengland, in dem eine Westminster-Nachwahl stattfindet, zu verlieren. Andererseits weiß niemand so recht, wie viel Popularität Boris Johnson im Augenblick genießt und was das für seine Partei bedeutet. Kürzlich noch fand sich "BoJo" dank der erfolgreichen Impf-Politik seiner Regierung ganz obenauf. In den letzten Wochen haben ihm allerdings eine Reihe persönlicher Skandale geschadet. "Bei Leuten, die Boris nicht sonderlich mögen, könnte das den Ausschlag geben", sagte dazu ein nervöser Minister der "Londoner Times".

Weichenstellung in Schottland

Das Hauptinteresse des Königreichs gilt freilich heute den eigenwilligen Schotten, die ein neues Parlament für "ihre" Nation wählen. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP), hat diese Wahl ja schon zur "wichtigsten der schottischen Geschichte" erklärt. Sollte sie auf eine Mehrheit im Edinburgher Parlament kommen, würde Sturgeon dies als Wähler-Mandat für die Ausschreibung eines neuen Referendums über schottische Unabhängigkeit interpretieren. "In der ersten Hälfte" einer entsprechenden fünfjährigen Amtszeit solle dann eine solche Volksabstimmung abgehalten werden, hat sie erklärt.

Tatsächlich stehen die Chancen nicht schlecht, dass die SNP-Chefin ihr "Mandat" erhält. Selbst wenn die SNP eine absolute Mehrheit knapp verfehlen sollte, könnte Sturgeon auf Schottlands Grüne Partei zählen, die wie die SNP für schottische Unabhängigkeit eintritt und sich als Junior-Partnerin zur Durchsetzung eines Referendums anbieten würde.

Etwas Ungewissheit ins Kalkül hat in letzter Minute nur Sturgeons im Unfrieden geschiedener Vorgänger Alex Salmond mit seiner neugegründeten "Alba"-Partei gebracht. Salmond, der sich als der "wirkliche" Kämpfer für Unabhängigkeit ausgibt, hat gelobt, bei seinem Einzug ins Parlament Sturgeon zu sofortigem Handeln und notfalls zu einer einseitigen Ausrufung schottischer Unabhängigkeit zu zwingen. Die SNP-Chefin will sich dagegen Zeit lassen mit ihrem Referendum - schon, um zögernde Wähler nicht zu verprellen. Oberste Priorität, hat sie erklärt, bleibe in den nächsten Monaten der Kampf gegen die Pandemie.

Keine Illusionen macht sich Nicola Sturgeon darüber, dass ihre Wiederwahl - ihr "Mandat" - schon ein Freibrief für eine neue Volksabstimmung wäre. Dem ersten Unabhängigkeits-Referendum dieses Jahrhunderts, dem Referendum von 2014, hatte ja der damalige Tory-Premier David Cameron zugestimmt. Boris Johnson aber hat ein "Indyref2", ein zweites Referendum, kategorisch ausgeschlossen.

Sollte er an dieser harten Linie festhalten, käme es zu einem regelrechten Verfassungskonflikt, bei dem womöglich die Gerichte das letzte Wort zu sprechen hätten. Und würde ein Referendum erlaubt, wäre der Ausgang heute noch nicht vorauszusagen. Letzten Umfragen zufolge wollen genau 50 Prozent der Schotten ein unabhängiges Schottland. Die anderen 50 Prozent wollen das nicht.

Unabhängigkeitswille wächst

Experten lenken den Blick derweil ins kleine Wales, das heute auch seine Volksvertretung, den Senedd, neu beschickt. In Wales, das England aus historischen Gründen enger verbunden ist als Schottland, war der Wille zur Unabhängigkeit nie so ausgeprägt. Zur völligen Überraschung der Top-Politiker in London ergab eine Umfrage im März aber, dass 39 Prozent aller Bürger des "Fürstentums" sich mittlerweile ebenfalls vorstellen könnten, dem Vereinigten Königreich Goodbye (oder "Hwyl fawr") zu sagen. Noch vor sechs Jahren waren es nur 3 Prozent.

Das wird die kleine Unabhängigkeits-Partei Plaid Cymru vorerst nicht in eine Position katapultieren, wie sie in Schottland die "große Schwester" SNP innehat. Aber selbst die in Wales regierende Labour Party könnte nach den Wahlen auf einen Koalitionspartner angewiesen sein. Und Plaid Cymru hat die Frage der Abkoppelung von London zu einer zentralen Forderung ihres Wahlprogramms gemacht.