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Putins Waffen im Infokrieg mit dem Westen

Von Gerhard Lechner

Politik

Der Kreml nutzt den aktuellen Konflikt des Westens mit Weißrussland, um EU und USA Scheinheiligkeit vorzuwerfen. Es ist nicht das erste Mal, dass Russland dieses Argument vorbringt. Im Internet hat man damit Erfolg - auch hierzulande.


Marija Sacharowa hat Übung darin, den Westen mit teils beißendem Spott zu attackieren. Erst am Freitag wieder schoss sich die Sprecherin des russischen Außenministeriums auf ihr Lieblingsziel, die "feine europäische Politgesellschaft", ein: "Was die Westler da gemacht haben, aus politischen Gründen Flüge durch den Luftraum von Belarus zu verbieten, ist eine völlige Verantwortungslosigkeit, die die Sicherheit der Passagiere in Gefahr bringt", schrieb die Assistentin von Russlands Außenminister Sergej Lawrow auf Facebook. Die Nicht-Erteilung von Genehmigungen alternativer Flugrouten durch Moskau verteidigte Sacharowa. Sowohl die Austrian Airlines als auch die französische Air France hatten wegen fehlender Genehmigung aus Moskau Flüge in die russische Hauptstadt absagen müssen.

Mittlerweile hat Russland die Genehmigung für Alternativrouten zwar erteilt. In der EU ist dennoch die Unsicherheit über das russische Vorgehen gewachsen. "Die Gefahr einer Eskalation besteht immer", äußerte sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell über die schwierigen Beziehungen zu Moskau.

 

Verweis auf Fall Snowden

Diese zeigten sich auch in Sacharowas Reaktion auf die erzwungene Landung des Ryanair-Flugzeuges in Minsk: Es war weniger die vom Westen konstatierte "Luftpiraterie" durch Weißrussland, die Lawrows Sprcherin störte. Was eigentlich schockiere, schrieb Sacharowa auf Facebook, sei, dass der Westen den Vorfall als schockierend bezeichne. Und zwar deshalb, weil er es in anderen Fällen ganz und gar nicht getan hätte, etwa bei der "erzwungenen Landung eines Flugzeugs des bolivianischen Präsidenten in Wien auf Verlangen der USA" 2013.

Damals hatte Präsident Evo Morales nach Entzug der Überflugsrechte durch Frankreich und Portugal in Wien notlanden und sein Flugzeug durchsuchen lassen müssen. Der Grund: Die USA vermuteten den gesuchten Whistleblower Edward Snowden an Bord. Außerdem wies Sacharowa noch auf eine Causa in der Ukraine 2016 hin, als eine Maschine, die bereits von Kiew Richtung Minsk abgehoben war, wieder umkehren musste, weil sich an Bord ein Maidan-Gegner befand. Er wurde in Kiew verhaftet, ohne Protest des Westens. Wenn, dann müssten all diese Ereignisse verstören, meinte Sacharowa.

 

Kosovo, Libyen, Irak

Die Reaktion der Sprecherin war alles andere als überraschend: Seit Jahren schon weist Russland den Westen, wenn es mit seinen Tabubrüchen konfrontiert wird, in bitterem Tonfall auf dessen Schwächen hin. Die Krim-Annexion konterte man mit dem westlichen Verhalten im Kosovo-Konflikt, die Kritik am russischen Eingreifen in Syrien mit den westlichen Interventionen in Libyen oder im Irak.

"Schürf- statt Menschenrechte"

Diese dienen in russischer Lesart völlig anderen Zwecken als der Schaffung einer besseren Welt: Man ist der Überzeugung, dass mit einer verlogenen humanitären Menschenrechts-Phraseologie nur die wirklich im Zentrum stehenden harten Machtinteressen bemäntelt würden, und diese Interessen bestünden, mit dem linken deutschen Kabarettisten Volker Pispers gesprochen, nicht in Menschen-, sondern in Schürfrechten.

Dieses Argument ist, wie nicht nur das Beispiel Pispers zeigt, auch hierzulande populär. Russlands Präsident Wladimir Putin kann mit dem stets aufs Neue vorgetragenen Verweis auf westliche Scheinheiligkeit im Internet punkten und hat sich eine treue Fangemeinde herangezüchtet, die selbst der Umstand, dass der am Sonntag festgenommene Gegner von Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko, Roman Protassewitsch, offenbar misshandelt wurde, nicht sonderlich stört.

 

Infokrieg mit harten Bandagen

Zumal es ja den Richtigen trifft: Auf Facebook und Twitter machen Fotos die Runde, die Protassewitsch in der Uniform des rechtsradikalen ukrainischen Asow-Bataillons zeigen sollen, das im Donbass gekämpft hat. Auch der weißrussische Blogger, heißt es, soll dort gekämpft haben. Ob die Person, die auf den Fotos abgebildet ist, wirklich Protassewitsch ist, oder ob sie ihm nur ähnlich sieht, muss freilich offen bleiben.

Im Infokrieg wird allzu oft mit gefälschten Fakten operiert - übrigens auch von westlicher Seite: Nach dem Irak-Krieg 1991 stellte sich die Aussage einer angeblichen kuwaitischen Krankenschwester, irakische Soldaten hätten nach der Besetzung Kuwaits kuwaitische Frühgeborene getötet, indem sie sie aus den Brutkästen genommen und auf den Boden geworfen hatten, als Lüge heraus. Die Behauptung, die in den USA eine kriegsfreundliche Stimmung schuf, hatte die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA getätigt, die Geschichte wurde von einer von Kuwait bezahlten PR-Agentur geschickt inszeniert.

Es sind auch Geschichten wie diese, die im postsowjetischen Russland das Vertrauen in das westliche Demokratiemodell mit seiner Erzählung von den universalen Menschenrechten unterminiert haben. Dazu kam noch, dass sich viele Russen zunächst zwar über das Ende des einengenden Kommunismus freuten, das Ende des Sowjetimperiums in seiner alten Ausdehnung aber betrauerten.

"Naiv" als Schimpfwort

Das wilde Chaos der 1990er Jahre verstärkte zusammen mit dem Umstand, dass sich die Nato nach Osten ausdehnte, die Überzeugung, dass das westliche Demokratiemodell ein zutiefst unehrliches sei. Hinter der anständigen Menschenrechtsfassade gehe es eigentlich um ganz etwas Anderes: Härter denn je betreibe der Westen, besonders die USA, Macht- und Interessenpolitik, und diese sei gegen Moskau gerichtet. Putin erscheint in diesem Modell als der illusionslos-realistische Retter Russlands, der nicht noch einmal in die westliche Falle tappen wird - wie die "naiven" Politiker Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. "Naiv" ist für einen Politiker in Russland seither das größtmögliche Schimpfwort.