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Wie groß wird die Merkel-Lücke in der EU?

Von WZ-Korrespondent Andreas Lieb

Politik

Die europäischen Fußstapfen der scheidenden deutschen Bundeskanzlerin sind groß.


Noch ist es zu früh für einen Abschied. Solange Deutschland noch mit einer Regierungsbildung beschäftigt ist, bleibt Angela Merkel als Bundeskanzlerin im Amt. Beim EU-Oktobergipfel in Brüssel wird sie also aller Voraussicht nach noch dabei sein - ob im Ratsgebäude dann bereits die Sektgläser zum Adieu klirren oder doch erst beim Europäischen Rat im Dezember oder gar noch später, ist ein Problem des Protokolls. Das Problem Europas lautet: Was ist nach Merkel?

Zwar wurde schon während des deutschen Wahlkampfs herausgestrichen, dass alle drei Kandidaten als EU-freundlich gelten: Armin Laschet etwa war selbst EU-Abgeordneter für die CDU, die Grüne Annalena Baerbock arbeitete immerhin für eine EU-Mandatarin. Der Sozialdemokrat Olaf Scholz nimmt als Minister an EU-Treffen teil. Aber die Befürchtung ist, dass Merkels europäische Fußstapfen zu groß sind. Das gilt zunächst für jeden Nachfolger.

Angela Merkel steht seit zehn Jahren auf der Forbes-Liste der mächtigsten Frauen der Welt auf Platz 1, und das hat nur bedingt mit der Wirtschaftsmacht Deutschlands zu tun. Nach dem EU-Abgang der Briten und dem Straucheln der Italiener schien es so, als würde nunmehr allein die französisch-deutsche Achse das bestimmende Element der Europäischen Union sein. Doch die Zeiten haben sich geändert. Immer öfter bilden sich lose Interessensverbände unter den Mitgliedsländern, die gemeinsam stark sein wollen; einmal die "Frugalen Vier" (oder Fünf), dann wieder die Visegrad-Gruppe, dann wieder sind es Staaten, die gemeinsam Briefe schreiben, weil sie für oder gegen etwas sind.

Bewahrend, nicht visionär

Bisher war der Eindruck, das gehöre zum Spiel und habe jeweils eine innenpolitische Komponente - und am Ende komme erst die Lösung, die Paris und Berlin beschlossen hatten. Das war zuletzt der Fall beim Corona-Wiederaufbaufonds. Aber ob dieses Spiel in Zukunft auch so läuft, ist mehr als fraglich.

Denn auch Frankreich ist nicht mehr so, wie es einmal war. Präsident Emmanuel Macron, der vermutlich gerne das deutsche Vakuum mit sich selbst aufgefüllt hätte, muss um seinen Job kämpfen und hat gerade eben mit dem indopazifischen Sicherheitsbündnis Australiens, Großbritanniens und der USA eine böse Niederlage erlitten, die Schockwellen über ganz Europa aussendet. Kommendes Jahr übernimmt das Land die wechselnde Ratspräsidentschaft - anders als die Deutschen, denen der Durchbruch mit dem EU-Budget gelang und die auch den Brexit ins, zumindest formale, Finale führen konnten, bleibt den Franzosen bloß eine unerquickliche Debatte über die noch immer ausstehende Asylreform und das verkorkste Verteidigungsthema, in das auch die Nato hineingezogen wird. Viele haben Macrons "Hirntot"-Sager von vor zwei Jahren noch nicht vergessen.

In Brüssel gibt es Bemühungen, der Konstellation Positives abzugewinnen. Eine endgültige Einigung über den neuen europäischen Migrationspakt könnte vielleicht doch direkt nach der französischen Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr erzielt werden, zeigte sich der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, in Interviews optimistisch und bezog sich dabei auf den deutschen Regierungsbildungsprozess in Kombination mit dem französischen Wahlkampf.

Die Nachfolger Merkels, so befinden Johannes Greubel und Sophie Pornschlegel von der Brüsseler Denkfabrik EPC (European Policy Centre) in ihrer Analyse, müssten einerseits auf Merkels Stärken aufbauen - das Staatstragende, das Krisenmanagement - und anderseits die signifikantesten Schwächen überwinden: "das Fehlen einer strategischen und ambitionierten Vision für Europa". In der Tat ist dieser Vorwurf oft zu hören: Merkel, die Verwalterin, Merkel, die Bewahrerin, der Fels in der Brandung - aber Merkel, die Visionärin? Nein.

Außenpolitik als Randnotiz

Das mag viele Gründe haben. Einer ist, dass die Langzeitkanzlerin damit gut gefahren ist. Ein anderer, dass die Deutschen selbst offensichtlich nicht besonders an Europapolitik interessiert waren. Die Zeitschrift "Die Zeit" hat vor kurzem die Wochenberichte ausgewertet, die dem Kanzleramt eigens erhobene Stimmungswerte zu konkreten Themen liefern. Migration, Umwelt und Corona waren die Hauptthemen der letzten Jahre - Europapolitik ist da weit abgeschlagen unter "ferner liefen" und kam höchstens dann ins Bewusstsein der Deutschen, wenn es gerade wieder einmal um Asylpolitik ging oder den Brexit.

Vermutlich haben auch die Bewerber um Merkels Job diese Daten gesehen. Europäische Union, sogar Außenpolitik insgesamt, war im deutschen Wahlkampf bestenfalls eine Randnotiz.

Das Grundproblem dürfte vorerst sein, dass die große europäische Bühne für alle Kandidaten Neuland ist. Laschet hat bisher noch nicht auf Augenhöhe mit Staats- und Regierungschefs agiert; Scholz hat wenigstens über sein Ministeramt Brüsseler oder Luxemburger Luft geschnuppert. Internationale Netzwerke auf höchster Ebene schauen anders aus, meinen die EPC-Experten: "Persönliche Kontakte zu Staatsoberhäuptern fehlen." Schlussfolgerung: "Paris muss die erste Adresse sein, wenn es um Kontakte mit anderen EU-Ländern geht."

Also doch. Wer immer Merkel nachfolgt, müsse umgehend für eine Erneuerung des französisch-deutschen Grundbündnisses sorgen. Eine gute Gelegenheit dafür könnte die Konferenz zur Zukunft Europas bieten, die gerade eben in Straßburg mit den Bürgerforen in eine nächste Phase getreten ist und die eigentlich die französische Ratspräsidentschaft zieren soll, wenn im kommenden Frühjahr die Präsentation der Ergebnisse stattfindet. Gedacht als Initialzündung für eine neue, bürgernahe EU der Zukunft, droht die Konferenz aber bis jetzt zumindest zur Alibi-Veranstaltung für EU-interessierte Bürger und Aktivgruppen zu werden - außer, der Funke springt noch über, gar bis Berlin.

Es sieht fast so aus, als wollte sich die CDU/CSU zumindest an einer Flanke jetzt schon absichern: EVP-Fraktionschef Manfred Weber, ein Bayer, schlägt bekanntlich die Option aus, für die zweite Halbzeit Präsident des EU-Parlaments zu werden, und strebt dafür die Nachfolge des früheren Ratspräsidenten Donald Tusk als EVP-Parteichef an. Ein Job, der nicht im grellen Scheinwerferlicht steht, wohl aber von bedeutendem Gewicht auf EU-Ebene ist. Und in Brüssel sitzt ja auch noch die deutsche Kommissionspräsidentin.

Angela Merkel, die Krisenkanzlerin: Die Regierungschefin steuerte ihr Land und Europa durch Wirtschaftsdramen und Flüchtlingswellen, durch Konflikte mit den USA und durch eine verheerende Pandemie. Jetzt geht es um den Klimawandel, die digitale Transformation und eine aktive Außenpolitik, damit Europa zwischen den großen Blöcken nicht zerrieben wird. Der Generationswechsel in Deutschland ist Risiko und Chance zugleich - für Deutschland und für die EU.