Nur etwas mehr als drei Kilometer trennen das Konrad-Adenauer-Haus vom Willy-Brandt-Haus in Berlin. In den Parteizentralen von CDU und SPD hängen Funktionäre und Sympathisanten an den Monitoren: Schaffen die Konservativen doch noch die Trendwende und holen Platz eins bei der Bundestagswahl? Kann die SPD ihren Vorsprung bis zum Wahltag retten? Bange Blicke dominieren, bei den SPD-Anhängern löst sich schließlich die Spannung ein klein wenig, als die Hochrechnungen der TV-Sender ihrer Partei knapp mehr als 25 Prozent (25,7 Prozent) und damit einen leichten Vorsprung prognostizieren.

Tatsächlich ist es aber um keines der beiden großen politischen Lager Deutschlands gut bestellt. Mit weniger als 25 Prozent (24,1 Prozent) rutscht die Union aus CDU und CSU am Sonntag erstmals in ihrer Geschichte unter die 30-Prozent-Marke bei Bundestagswahlen. Sogar 1949, bei der ersten freien Wahl nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und in einem Umfeld vieler Parteien, die gleich wieder verschwanden, konnte die Union 31 Prozent für sich gewinnen. Die Wahl am Sonntag könnte eine Zäsur sein, das Ende der Volksparteien in Deutschland markieren. Keiner politischen Kraft gelingt es mehr, einen beträchtlichen Anteil der Wähler zu binden, unterschiedliche Interessen und soziale Schichten auf dem Boden des Grundgesetzes zu vereinen.

Vor allem für die Union ist der Status als Volkspartei identitätsstiftend. Für die Parteigründer nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete Volkspartei eine interkonfessionelle Sammelpartei "der katholischen und evangelischen Christen und aller derer zu sein, die sich zu den bildenden Kräften der abendländischen Kultur und zu den besten Überlieferungen deutscher Tugenden bekennen", sagte Karl Arnold, der erste Präsident des Bundesrates, der parlamentarischen Länderkammer. Das christliche Menschenbild bildet die Grundlage der Politik, nicht Ideologien wie der Sozialismus, den die SPD propagiert. Wirtschaftspolitisch steht die Soziale Marktwirtschaft "im scharfen Gegensatz" sowohl zum System der Planwirtschaft jedweder Spielart als auch zum "Liberalismus unsozialer, monopolistischer Prägung", wie die CDU 1949 festhält.

Die Integrationsleistungen von Union und SPD

Am erfolgreichsten war die Union mit dieser Ausrichtung in der jungen Bundesrepublik. Unter Konrad Adenauer gelang sogar die absolute Stimmenmehrheit. Doch am Ende der Ära des ersten Kanzlers kamen eben jene Fragen auf, die auch beim Abtritt von Helmut Kohl und Angela Merkel Jahrzehnte später laut wurden: Wofür steht die CDU und mit ihr die bayerische Schwester CSU?

Ab Anfang der 1960er erwächst der Union neue Konkurrenz. Denn die SPD kehrt mit ihrem Godesberger Programm vom Sozialismus ab, sie wandelt sich von einer Interessen- und Weltanschauungspartei zu einer linken Volkspartei. Diesen Umbruch verkörpert Willy Brandt, der ab 1969 erster sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik wird. Unter ihm schafft die SPD nie mehr erreichte 45,8 Prozent im Jahr 1972. Den Sozialdemokraten dieser Zeit gelingt eine beträchtliche Integrationsleistung: Sie gewinnen "beträchtliche Teile der unruhigen Jugend für die Mitarbeit in den staatlichen Institutionen", merkt der Politologe Eckhard Jesse in der "Neuen Zürcher Zeitung" an. Die Union habe zuvor für eine große Integrationsleistung gesorgt, indem sie frühere Nationalsozialisten in das demokratische Gefüge integrierte.

Ihr Browser kann derzeit leider keine SVG-Grafiken darstellen!

Aber Union und SPD stehen mit den gesellschaftlichen Veränderungen ab den 1980er Jahren vor Herausforderungen, die alle Volksparteien in Europa vor harte Proben stellen - und die sie großteils nicht meistern werden. Mit dem Prozess der Individualisierung brechen jahrzehntelange Gewohnheiten auf: Lebenswelten ändern sich, Stammwählerschaften erodieren. Das reicht von der radikalen Abnahme der Kirchenbindung im Westen des Kontinents bis zum schwindenden Einfluss protektionistischer Wirtschaftsstrukturen und der Gewerkschaften. Selbst wenn Personen ihrem Milieu treu bleiben, die Bindung an die Parteien nimmt ab. Auch die Zahl der Mitglieder schrumpft beträchtlich. In der SPD als mitgliederstärkste Partei ging es von 940.000 Personen im Jahr 1990 auf 404.000 im vergangenen Jahr bergab, bei der CDU von 790.000 auf 400.000.

Auf dem Niveau von Kaiserreich und Weimarer Republik

Das Drei-Parteien-System Deutschlands, dem die liberale FDP als jahrzehntelanger Juniorpartner angehört, erfährt erst mit der Umweltbewegung und der Etablierung der Grünen eine Erweiterung. Anfangs sind es festgelegte Blöcke, die einander gegenüberstehen, Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün. Aber auch diese Trennlinien weichen im Lauf der Jahre auf. Parallel zur immer geringeren Bindungskraft der Volksparteien wächst die Zahl der Parteien, die im Bundestag vertreten sind. Die SED-Nachfolgerin Linkspartei baut seit der Wiedervereinigung auf ihre Stärke im Osten. Sie zog zusätzlich Wähler an, die nach Gerhard Schröders Arbeitsmarkt- und Sozialreform Agenda 2010 der SPD den Rücken kehrten. Auf das Niveau in Kaiserreich und Weimarer Republik fallen die Sozialdemokraten aber erst nach der großen Koalition 2009 zurück. Anders als in Österreich galt ein Bündnis zwischen Schwarz und Rot nur in Krisenzeiten als opportun. Mittlerweile ist es eine Option von vielen, in den vergangenen beiden Legislaturperioden koalierten Union und SPD. In den Bundesländern regieren SPD und Grüne mit den Liberalen wie in Rheinland-Pfalz, im nördlichsten Bundesland, Schleswig-Holstein, sind CDU, Grüne und FDP Bündnispartner. Konservative und Grüne koalieren in gleich zwei Bundesländern, in Baden-Württemberg und in Hessen.

Vom Drei-Parteien-System zu sieben Parteien im Bundestag

Derweil franst der Bundestag immer weiter aus: In der kommenden Legislaturperiode werden mit CDU, CSU, SPD, Grünen, FDP, AfD, Linker und dem als Minderheitenpartei von der Sperrklausel ausgenommenen Südschleswigschen Wählerverband (SSW) acht Parteien vertreten sein. Und wegen der Unbeliebtheit der großen Koalition dürfte künftig erstmals ein Dreier-Bündnis regieren - sowohl die Ampel-Variante (SPD, Grüne, FDP) als auch ein Jamaika-Bündnis (Union, Grüne, FDP) waren den ersten Hochrechnungen zufolge möglich. Derartige Koalitionen erfordern aber noch mehr Kompromissfähigkeit von den potenziellen Partnern. Nach der Bundestagswahl 2017 brachten Konservative, Grüne und Liberale nicht genug davon auf, die FDP verließ den Verhandlungstisch. Vier Jahre später wird das Sitzfleisch der Verhandler noch stärker gefordert werden.