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"Eine geradezu grausame Gleichgültigkeit"

Politik

In Frankreich sind seit den 1950ern mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Übergriffe von geistlichen Würdenträgern geworden.


Seit nunmehr zwei Jahrzehnten ist das Thema ein Sargnagel für das öffentliche Ansehen und das innere Leben der katholischen Kirche. Immer wieder stehen einzelne Bischöfe, Ordensleitungen, Bischofskonferenzen oder der Vatikan am Pranger wegen Versagens im Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Priester und Kirchenmitarbeiter.

Am Dienstag ist mit Frankreich nun eine der traditionsreichsten christlichen Nationen an der Reihe gewesen. Dort ist ein rund 2.500 Seiten umfassender Abschlussbericht der Unabhängigen Untersuchungskommission sexueller Missbrauch in der Kirche (CIASE) erschienen, der die erschreckenden Dimensionen des jahrzehntelangen Missbrauchs penibel dokumentiert. So sind den Berechnungen der Untersuchungskommission zufolge seit den 1950er-Jahren rund 216.000 Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Übergriffe von geistlichen Würdenträgern geworden. Unter Einbeziehung der von der Kirche betriebenen Einrichtungen könne man sogar von 330.000 Opfern ausgehen, sagte CIASE-Präsident Jean-Marc Sauve in Paris. Die Zahlen seien "erschütternd".

80 Prozent der Opfer sind dem Bericht zufolge Buben im Alter zwischen 10 und 13 Jahren gewesen, 20 Prozent Mädchen unterschiedlicher Altersgruppen. Bei den Taten hat es sich in fast einem Drittel der Fälle um Vergewaltigungen gehandelt. Die Opfer hätten Leiden, Isolation und oft auch Scham und Schuldgefühle erlitten, sagte der frühere Richter Sauve. Knapp die Hälfte der Betroffenen litten auch nach vielen Jahren noch unter den Folgen.

26.000 Stunden Arbeit

Der Bericht basiert auf Daten aus Archivmaterial von Kirche, Justiz, Staatsanwaltschaft, aus Medienrecherchen sowie auf Zeugenaussagen, die die aus 21 Juristen, Medizinern, Historikern und Theologen bestehende Kommission auf einer regelrechten Tournee durch das Land gesammelt hat. Rund 26.000 Stunden haben die Mitglieder nach eigenen Angaben seit 2018 ehrenamtlich geleistet, um Tausende Zuschriften zu bearbeiten und Gespräche mit Betroffenen zu führen. Oft gerieten die Mitglieder der Kommission dabei auch an ihrer eigenen Grenzen. So beschreibt die Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin Sylvette Toche, die Generalsekretärin der CIASE, in der Zeitung "La Croix" wie sehr sie die individuellen Berichte der Opfer in Briefen und Anhörungen persönlich mitgenommen hätten. "Die nüchternsten waren oft die schrecklichsten", sagt die 73-Jährige.

Sauve, der die Zahl der der Pädophilen in der katholischen Kirche Frankreichs im untersuchten Zeitraum mit 2900 bis 3200 bezifferte, warf den Verantwortlichen am Dienstag vor, sie hätten zu lange die Augen vor systematischem Missbrauch in den eigenen Reihen verschlossen und über Jahre eine "gerade grausame Gleichgültigkeit" an den Tag gelegt. Erst Mitte des vorigen Jahrzehnts habe ein Umdenken eingesetzt.

"Sie müssen bezahlen"

Auch der Gründer des Opferverbands "La Parole Libérée" machte Kirchenvertretern bei der Präsentation des Berichtes schwere Vorwürfe. Sie sind eine Schande für die Menschheit", sagte Francois Devaux an die Kleriker gerichtet. Sie müssen für alle diese Verbrechen bezahlen." Dabei werde es um Milliardensumme gehen.
Der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Eric de Moulins-Beaufort, sprach mit Blick auf den Missbrauchskandal von Scham und bat die Opfer um Vergebung. Man werde alle erforderlichen Schritte einleiten, damit sich ein solcher Skandal nicht wiederhole. Auf der Sitzung der Kirchengremien im November sollen die entsprechenden Maßnahmen dann auch schon beschlossen werden. Personelle Konsequenzen aus dem Bericht sind dagegen nicht absehbar. Denn anders als in anderen Ländern stehen in Frankreich bisher keine aktiven Bischöfe wegen eines Aufsichtsversagen oder gar eigene Sexualverbrechen am Pranger.

Ob die Entschuldigungen und die Präventionsmaßnahmen reichen werden, um nach solch kapitalem Vertrauensverlust wieder Boden unter den Füßen zu bekommen und als Stimme in ethischen und moralischen Fragen weiter gesellschaftlich gehört zu werden, kann mit Blick auf früher erzkatholische Länder wie Spanien oder Irland aber bezweifelt werden. Und für Frankreich ist der Befund schon jetzt kritisch: Zwar bezeichnet sich noch jeder zweite der etwa 67 Millionen Einwohner des Landes als katholisch. Doch selbst kirchliche Medien beziffern die "Praktizierenden" mit nur noch knapp zwei Prozent der Bevölkerung. (kap/rs)