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Geschmähtes Europa, geliebtes Europa

Von Martyna Czarnowska

Politik

Urteil des polnischen Verfassungstribunals zu EU-Recht löst Unmut im In- und Ausland aus.


Mateusz Morawiecki könnte zufrieden sein. Es war Polens Premier, der vom Verfassungstribunal in Warschau wissen wollte, ob in bestimmten Fällen die Verfassung des Landes nicht Vorrang vor EU-Recht hätte. Und das Gericht antwortete mit Ja. Der EU-Vertrag sei im polnischen Rechtssystem der Verfassung untergeordnet, heißt es in einer Begründung - und wie jeder Teil des polnischen Rechtssystems müsse er der Verfassung entsprechen. Außerdem sei es rechtens, die Anwendbarkeit von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu prüfen.

Doch weiß Morawiecki auch, dass damit an einem Grundpfeiler der Europäischen Union gerüttelt wird: der Übereinkunft, dass EU-Regelungen eben Priorität haben. Seine Reaktion auf das Urteil vom Donnerstag war daher am Freitag mit einem Bekenntnis zur EU-Mitgliedschaft verbunden. Der Beitritt zur Union sei eines der wichtigsten Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte gewesen - sowohl für Polen als auch für die Union selbst, schrieb der Premier auf Facebook. Der Platz des Landes sei in der "europäischen Familie der Nationen".

Polexit steht nicht im Raum

Denn die Debatte um einen möglichen Austritt aus der EU war schnell wieder hochgekocht. Nicht nur die polnische Opposition warnte vor dieser Gefahr, sondern ebenfalls so mancher westeuropäische Politiker, wie der französische Europaminister Clement Baune. Polen spiele mit dem Feuer, befand auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn.

"Sehr besorgt" zeigte sich ebenso die EU-Kommission. Deren Präsidentin, Ursula von der Leyen, wies in einer Aussendung darauf hin, dass EuGH-Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten verbindlich seien und EU-Recht Vorrang vor nationalen Regelungen hätte. Zu diesem Grundsatz hätten sich die Länder mit ihrem EU-Beitritt verpflichtet, und diese Rechtssicherheit sei sowohl für die Bürger als auch für die Unternehmen der Union nötig.

Dabei steht der sogenannte Polexit in Polen gar nicht im Raum. Nicht nur, dass die Regierung jegliche Ambitionen in diese Richtung bestreitet. Vor allem ist die EU-Freundlichkeit der Polen weit höher als jene der Briten. Fünf von sechs Bürgern befürworten laut Umfragen die Mitgliedschaft in der Union, und deren Vorteile werden nicht nur an den bedeutenden EU-Förderungen gemessen. Ein mögliches Referendum über einen Austritt aus der Gemeinschaft wäre daher zum Scheitern verurteilt.

Dennoch wandelt das Land auf einem engen Pfad. Die nationalkonservative Regierung rund um die Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) von Jaroslaw Kaczynski spricht nicht von ungefähr von einer "Familie der Nationen". In dieser Diktion spielt Souveränität eine große Rolle, die es zu verteidigen gilt. Als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates wird daher so mancher Versuch der Einflussnahme aus Brüssel angesehen. Die "Abwehr solcher Angriffe", wie es einige Regierungspolitiker formulieren, wird von einigen sehr konservativen Wählern durchaus geschätzt.

Umbau des Staats

Hinter dem seit Jahren schwelenden Justizzwist zwischen Warschau und Brüssel stecken aber nicht nur populistische, sondern auch ideologische Überlegungen. Denn kurz nach der Machtübernahme 2015 hat Kaczynskis PiS mit einem Umbau des Staates begonnen, der etliche Bereiche umfasst - vom Justizwesen über den Bildungssektor bis hin zu den Medien. Und eine der ersten Streitigkeiten betraf das Verfassungstribunal selbst.

Die dort von PiS forcierten Postenbesetzungen lösten in Polen Proteste und im Ausland Unmut aus. Der Vorwurf, die Unabhängigkeit der Justiz werde untergraben, wurde schon damals erhoben - und gilt bis heute. Der EuGH hat ihn in mehreren Urteilen bekräftigt; das Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit, eingeleitet von der Kommission, läuft. Polen wurde immer wieder zu Änderungen aufgefordert.

Für das Verfassungstribunal in Warschau zeugt das laut der aktuellen Entscheidung von einer "neuen Etappe" der europäischen Integration: einer in der die EU-Institutionen "außerhalb ihrer Kompetenzgrenzen" agieren. Das ist noch mild im Vergleich zu den Anfeindungen gegenüber der EU, die Richterin Krystyna Pawlowicz tätigte, als sie noch für PiS im polnischen Parlament saß.

Wann das Urteil seine Anwendung findet, ist freilich noch offen. Die Regierung in Warschau könnte seine Veröffentlichung hinauszögern und die Zeit für Gespräche mit Brüssel nutzen, die nicht zuletzt die Auszahlung von EU-Förderungen betreffen würden. Immerhin kann Polen auf dutzende Milliarden Euro zählen - allein aus dem Corona-Aufbaufonds fast 24 Milliarden Euro an direkten Zuschüssen.

Strafzahlungen drohen

Dass die EU eher zu finanziellen als zu politischen Druckmitteln greift, ist denn auch wahrscheinlich. Möglich wäre etwa der Entzug von Stimmrechten, doch ist das so gut wie nicht umsetzbar. Daher wird es sich wohl um Geld drehen. Neben dem Zurückhalten von Förderungen könnte es Strafzahlungen geben, die der EuGH verhängt und die ins EU-Budget fließen.

In der Zwischenzeit sind neue Demonstrationen geplant - gegen das Urteil und für die EU. Aufrufe dazu kamen aus der Opposition, aber auch aus der Zivilgesellschaft. Die landesweiten Proteste sind für Sonntag geplant.