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Brexit-Wirrwarr um Nordirland

Von WZ-Korrespondent Andreas Lieb

Politik

Zwist um Zollkontrollen: London droht, Brüssel legt neue Lösungsvorschläge vor - und will ansonsten hart bleiben.


Im Wissen, dass die EU-Kommission am Mittwoch neue Vorschläge machen würde, um den Streit um die Umsetzung des Nordirland-Protokolls zu entschärfen, holte der britische Brexit-Minister David Frost am Dienstag bei einer Rede in Lissabon schnell noch einmal mit dem Bihänder aus. Und forderte neuerlich die Ablösung der Vereinbarung. Unverhohlen drohte er mit der "Nuklearoption" - der Nutzung der Schutzklausel.

In Großbritannien ist offensichtlich eine Erkenntnis gereift, die allen anderen Beteiligten von Beginn an klar war: Das Königreich müsse, so Frost, "eine vollständige EU-Außengrenze inmitten unseres Landes betreiben". Dass der Vertrag von ihm selbst verhandelt und genauso von Premier Boris Johnson unterschrieben worden war, ist für Lord Frost kein Hinderungsgrund: Schließlich sei es nichts Außergewöhnliches, dass eine internationale Vereinbarung neu verhandelt werden könne, wenn sie nicht funktionieren würde. Im selben Atemzug hakte der Minister auch noch beim zweiten Dorn im Auge der Briten ein - der Europäische Gerichtshof (EuGH) solle doch durch ein paritätisch besetztes Schlichtungsgremium ersetzt werden.

Erleichterungen für Handel

Die EU-Kommission denkt aber offensichtlich nicht daran. Es habe einen guten Grund, warum am Protokoll dreieinhalb Jahre lang gefeilt worden sei, sagte am Mittwoch ein Kommissionsvertreter; eine Neuverhandlung des Dokuments schüre nur neue Unsicherheiten und sei keine Option. Stattdessen wies die Kommission darauf hin, dass es innerhalb des bestehenden Textes ausreichend Handlungsspielraum gebe, und präsentierte ein vier Punkte umfassendes Programm, das den Alltag zwischen Großbritannien und Nordirland wesentlich erleichtern soll. Dabei, so hieß es aus Diplomatenkreisen, seien einzelne Abteilungen bereits an die Grenzen des Machbaren gegangen. Auch aus den EU-Ländern kommen bereits Warnungen.

Der Vorschlag umfasst Vereinfachungen bei der Nahrungsmittelsicherheit, den Zollformalitäten, den Mitspracherechten Nordirlands und bei medizinischen Gütern. So sollen etwa Nahrungsmittel mehr oder weniger frei transportiert werden können, allerdings braucht es dafür eine spezielle Kennzeichnung.

Die Abfertigung von Lkw soll leichter werden. Bisher war es so, dass etwa ein Zusteller für einen Supermarkt dutzende oder gar hunderte Warengruppen auf der Ladefläche hatte, die jede für sich und damit insgesamt enormen Papierkrieg verursachten. In Zukunft könnte das in einem Vorgang erledigt werden, vor allem für typische Supermarktwaren, inklusive tierischer Produkte wie Käse, Joghurt, Hühner- oder Truthahnfleisch - "oder Cumberland Sausage", wie ein Kommissionssprecher präzisierte. Nicht enthalten im Vorschlag sind Erleichterungen für reisende Haustiere.

Kein Rütteln am EuGH

Ähnliches könnte auch bei den Zollformalitäten passieren, wo der Fokus sich darauf richten soll, Waren "von außerhalb" im Auge zu behalten, den Güterverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland selbst aber lockerer abzuwickeln. Im medizinischen Bereich soll durch die Anpassung einzelner Kapitel gewährleistet werden, dass es zum Beispiel bei wichtigen Medikamenten oder Generika keine Einschränkungen gibt. In Brüssel wird vorgerechnet, dass 80 Prozent der Formalitäten eingespart werden könnten.

Vize-Kommissionspräsident Maros Sefcovic, der die Vorschläge Mittwoch Abend präsentierte, hatte sich in den vergangenen Wochen länger in Nordirland aufgehalten und kam mit der Überzeugung zurück, das Angebot der Kommission richte sich in erster Linie an die Bewohner Nordirlands und sei nicht dazu da, eine Wunschliste aus London abzuarbeiten. In der Kommission heißt es dazu auch, der Plan sei nicht als "Friss oder stirb"-Angebot zu verstehen: Er sei eher eine Grundlage für neue Gespräche zwischen Brüssel und London, die noch diese Woche beginnen sollen. Allerdings sind die Briten bis heute sogar bei grundlegenden Dingen säumig, etwa bei der Errichtung von Kontrollstellen und der laufenden Übermittlung von Daten.

Am EuGH wird jedenfalls nicht gerüttelt, dessen Rolle sei allein schon darin definiert, dass der Binnenmarkt auf Nordirland erweitert sei. Vorschläge, wonach die Beziehungen zwischen den Briten und der EU nach dem Muster der Verträge mit der Schweiz gestaltet werden könnten, weist die Kommission zurück: Dort sei ja gerade der EuGH an die Spitze des Systems gesetzt.

Neue Zweifel an der Aufrichtigkeit der britischen Regierung säte der ehemalige Chefberater Premier Johnsons, Dominic Cummings. Der Plan sei gewesen, eine Einigung bei den Austrittsgesprächen mit Brüssel zu erzielen, um die Parlamentswahl 2019 zu gewinnen und dann "die Teile, die uns nicht gefallen", loszuwerden, schrieb der einst zweitmächtigste Mann im Londoner Regierungssitz Downing Street am Dienstagabend auf Twitter. Damit hätte es von Anfang an nicht die Absicht gegeben, die Vereinbarungen zu Nordirland einzuhalten.