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Lukaschenkos Kampf ums Überleben

Von Gerhard Lechner

Politik

Belarus bindet sich per Vertrag enger an Russland. Ist das das Ende der weißrussischen Unabhängigkeit?


Es war an sich nur eine Videokonferenz zweier Staatspräsidenten mit anschließender Unterzeichnung eines Vertrages. Und dennoch, so munkeln manche, könnte es der Anfang vom Ende der Unabhängigkeit des Staates Belarus gewesen sein. "Dann unterschreibe ich jetzt", sagte Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko in die Kameras des russischen Fernsehens, das die Zeremonie übertrug. Russlands Staatschef Wladimir Putin nickte zustimmend - er hatte das Dokument über die weitere Integration Weißrusslands in einen Unionsstaat mit Russland bereits unterzeichnet.

Der Vertrag sieht auf den ersten Blick tatsächlich ambitioniert aus: Insgesamt 28 Integrationsprogramme sieht er vor, darunter auch eine gemeinsam abgestimmte Militärdoktrin - die erste seit 2002. Laut den beiden Präsidenten ist die Zusammenarbeit der beiden - schon bisher eng verzahnten - Nachbarstaaten auf eine neue Stufe gestellt worden. Lukaschenko hatte bereits im September von einem baldigen "Durchbruch" bei den Verhandlungen gesprochen.

Dass Russland und Weißrussland eine Union anstreben, wäre an und für sich nichts Neues. Ein entsprechender Vertrag wurde bereits in den 1990er Jahren unterzeichnet. Damals hoffte der vom Westen isolierte Lukaschenko noch, als Nachfolger Boris Jelzins in den Moskauer Kreml einziehen zu können.

Als aus diesen Träumen nichts wurde und seit in Moskau in den 2000er Jahren Ex-Geheimdienstchef Wladimir Putin seine Macht festigte, konzentrierte sich Lukaschenko wieder stärker auf seine Macht in Minsk - und betonte die Unabhängigkeit von Belarus. Die gemeinsame Integration kam nie recht voran. Zwar wurde immer wieder über die Schaffung supranationaler Behörden, einer einheitlichen Währung oder eines Unionsparlamentes nach dem Vorbild der EU spekuliert.

Brücken nach Westen abgebrochen

Umgesetzt wurde davon freilich nichts - das Machtgefälle zwischen Minsk und Moskau ist einfach zu groß: In Moskau will man sich nicht vom Kleinstaat Belarus dreinreden lassen, was in Russland zu geschehen habe. Eine gleichberechtigte Partnerschaft war und ist unvorstellbar. Und in Weißrussland fürchtet man die Dominanz des Riesenreiches und den Verlust der Unabhängigkeit - einer Unabhängigkeit, die in den 1990er Jahren noch fragil war, die mittlerweile aber breite Unterstützung erfährt. Ein Anschluss Weißrusslands an Russland - in den 1990er Jahren noch ein denkbares Szenario - wäre extrem unpopulär. Dazu kommt noch, dass das Verhältnis beider Präsidenten zueinander nie von Vertrauen geprägt war.

Heute könnte die Lage freilich anders aussehen. Denn Lukaschenko ist nach der brutalen Niederschlagung der Proteste vor einem Jahr ganz auf das Wohlwollen und die Unterstützung Putins angewiesen. Die Brücken nach Westen hat er abgebrochen. Auch sein Versuch, ähnlich wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mittels Schleusung von Migranten Richtung EU diese unter Druck zu setzen und zum Nachgeben zu zwingen, hat stattdessen Gegendruck ausgelöst. Eine Schaukelpolitik wie vor den Wahlen im August 2020 kann sich Lukaschenko nicht mehr leisten.

Wenig Zugeständnisse

Dennoch ist in dem nun vorgelegten Vertrag weder von einem gemeinsamen Parlament noch von einer Einheitswährung, einer Verfassung oder ähnlichen substanziellen Integrationsschritten die Rede. "Es gibt in dem Papier nichts, was die weißrussische Souveränität einschränken würde", sagt der Minsker Politologe Artjom Schraibman der "Wiener Zeitung". "Nur einige vage, unverbindliche Ankündigungen, in einigen Jahren Gesetze zu vereinheitlichen", analysiert Schraibman, der sich aufgrund der gestiegenen Repressionen in Minsk ins Ausland absetzen musste.

Dabei gibt es seitens Moskaus durchaus Druck auf Minsk, die Integration voranzutreiben. "Bedenkt man aber, wie sehr Lukaschenko im letzten Jahr am Tropf Russlands hängt, dann hat er dem Kreml erstaunlich wenig Zugeständnisse gemacht", sagt Russlandexperte Gerhard Mangott der "Wiener Zeitung". So habe es etwa keinen Ausverkauf der weißrussischen Staatsindustrie an russische Unternehmen gegeben, wie von vielen erwartet.

Warum aber nicht? Weil, so Mangott, Russland keine Alternative zu Lukaschenko hat. Der autoritäre Langzeitherrscher ist für Moskau immer noch die beste Garantie dafür, dass eines nicht passiert: ein Abdriften Weißrusslands nach Westen. In einem demokratischen Belarus könnte das - spätestens seit der bei vielen unpopulären russischen Unterstützung für Lukaschenko - mittlerweile passieren.

Extrem wichtiges Land

Ein Belarus, das den Weg der Ukraine geht, wäre für Russland allerdings eine sicherheitspolitische Katastrophe. Das Land ist ein essenzielles Bindeglied zur russischen Exklave Kaliningrad und für die Vorneverteidigung Russlands extrem wichtig. Beobachter spekulieren deshalb auch, dass die jetzt beschlossene neue gemeinsame Militärdoktrin Russlands und Weißrusslands, die man noch nicht einsehen kann, Russland erlauben könnte, einen Militärstützpunkt in Belarus zu errichten. Moskau drängt schon länger darauf, Lukaschenko hat dieses Ansinnen aber bisher stets abwehren können.

Ein Stützpunkt wäre für Russland auch eine Art Rückversicherung gegen eine eventuelle weißrussische Nato-Annäherung: Denn auch wenn eine prowestliche Regierung in Minsk an die Macht käme, hätte sie es dann deutlich schwerer, die sicherheitspolitische Orientierung des Landes um 180 Grad zu drehen.