Zum Hauptinhalt springen

Wählt Premier Johnson die "harte Tour"?

Von Michael Schmölzer

Politik

London könnte womöglich schon bald das Nordirland-Abkommen über Bord werfen. Die Folgen wären unabsehbar.


Herbe Enttäuschung für alle, die an ein Ende des Brexit-Streits zwischen Großbritannien und EU geglaubt haben. Davon kann nicht die Rede sein, das illustriert die jüngste Äußerung des irischen Europa-Staatssekretärs Thomas Byrne: Er warnte London am Freitag davor, jetzt "die harte Tour zu verfolgen oder auf harten Kerl zu machen". Das, so Byrne, werde "in eine Katastrophe münden". Die Gefahr sei groß, dass die britische Vorgangsweise im Konflikt mit der EU zu völliger Instabilität in der ehemaligen Bürgerkriegsregion Nordirland führe.

Das Problem liegt darin, dass die Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel nur vordergründig zu einer Einigung geführt haben. In der EU ist man der Ansicht, dass die Briten das erzielte Nordirland-Abkommen demnächst über Bord werfen werden. Es vergeht tatsächlich kein Tag, an dem Brexit-Minister David Frost nicht mit einer Eskalation droht. Der Streit würde sich dann aufs Neue aufschaukeln. Was das für Nordirland und das Verhältnis EU-London bedeuten würde, will sich niemand vorstellen.

Der berüchtigte Artikel 16

Es wird immer wahrscheinlicher, dass die britische Regierung unter Premier Boris Johnson den Artikel 16 des Nordirland-Protokolls in Kraft setzt und damit die Vereinbarung teilweise hinfällig wird. Für viele stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern wann Johnson diesen Schritt setzt. Die Zeit, so Pessimisten, könnte bald nach dem Ende der Klimakonferenz in Glasgow gekommen sein. Ein schmerzhafter Handelskrieg mit der EU und unter Umständen erneutes Blutvergießen zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland wäre dann nicht mehr auszuschließen.

Noch ist es nicht so weit: EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic und sein britisches Gegenüber David Frost kamen am Freitag in London zusammen, um das Ruder noch einmal herumzureißen und den drohenden Schiffbruch zumindest vorläufig zu verhindern.

In dem gefährdeten Protokoll geht es darum, eine harte Brexit-Grenze zwischen Nordirland und dem zur EU gehörenden Irland zu vermeiden. Die Idee war die, dass Nordirland zwar mit dem Rest Großbritanniens aus der EU austritt, aber dennoch Mitglied von EU-Zollunion und Binnenmarkt bleibt. Das hat zur Folge, dass der Warenverkehr zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs kontrolliert werden muss. Diese Zollgrenze in der Irischen See ist den nordirischen Protestanten, die seit jeher stark mit London verbunden sind, ein Dorn im Auge. Die Loyalisten sind von der Angst getrieben, von London abgeschnitten zu werden. Der Gedanke einer Wiedervereinigung Irlands ist für sie blanker Horror. Auch Nationalisten in London sind von Anfang an davon ausgegangen, dass die Regelung wieder fällt.

Die Europäische Union hingegen muss auf der Zollgrenze beharren, weil andernfalls Waren völlig unkontrolliert in die EU gelangen könnten.

Brüssel bietet den Briten an, die Zollformalitäten unter anderem für Lebensmittel deutlich zu vereinfachen, um Engpässe zu verhindern. Denn London argumentiert, dass Nordirlands Versorgung unter dem Abkommen leide, dass das so nicht vorgesehen gewesen sei und geändert werden müsse. Johnson will auch erreichen, dass, anders als vereinbart, der Europäische Gerichtshof nicht mehr die letztentscheidende Instanz für Nordirland-Fragen ist. Das kommt für Brüssel nicht in Frage.

Um diesen externen Inhalt zu verwenden, musst du Tracking Cookies erlauben.

London sucht Vorwand

Britische Medien berichten, dass es in London schon ganz konkrete Pläne dafür gibt, was nach einer Suspendierung des Nordirland-Protokolls zu tun ist. Dazu kommt, dass Minister Frost zuletzt erklärt hat, Großbritannien bliebe "keine andere Wahl", als das Abkommen über Bord zu werfen, weil sich die EU berechtigten Forderungen widersetze.

In den meisten EU-Hauptstädten, vor allem aber in Dublin ist man der Ansicht, dass Johnson das Abkommen von Anfang an kassieren wollte und dass dem Briten jeder Vorwand dafür recht ist. Das bestätigen auch protestantische Politiker in Nordirland. Der unionistische Abgeordnete Ian Paisley Junior etwa, der zuletzt meinte, Premier Johnson habe ihm schon im Herbst 2019 versichert, dass er das Nordirland-Protokoll "in Stücke reißen" werde.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Lage in und um Belfast zuletzt gefährlich zugespitzt: Bewaffnete und maskierte Männer, vermutlich radikale Anhänger der Union mit Großbritannien, brachten zwei Passagierbusse in ihre Gewalt und zündeten sie an. Die rauchenden Wracks wirken gespenstisch, wie zwei drohende Mahnmale, die an Zeiten des Terrors erinnern, die in Nordirland niemand ein zweites Mal erleben möchte.

Bombe unter Polizeiauto

Immer öfter ist die Rede davon, dass das Belfaster Karfreitagsabkommen von 1998 jetzt nichts mehr wert wäre. Die Lunte am Pulverfass ist gelegt. Im protestantischen Lager haben radikale Gruppen wie die Partei der Progressiven Unionisten PUP einigen Einfluss, dazu kommen paramilitärische Verbände wie die "Ulster Volunteer Force". Auf der anderen Seite sind diverse katholische Splittergruppen der IRA weiter aktiv. Im April wurde ein Sprengsatz unter dem Polizeiwagen einer weiblichen Beamtin gefunden, alles deutet darauf hin, dass die eigentlich aufgelöste Terrororganisation hinter dem Attentatsversuch steckt. In Belfast kam es vergangenen Frühling zu gewalttätigen Ausschreitungen, Jugendliche warfen Steine, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails auf Polizisten, die setzten sich mit Wasserwerfern zur Wehr.

In der EU bereitet man sich darauf vor, dass Premier Johnson Artikel 16 bald in Kraft setzt. Hier herrscht Einigkeit, dass ein derartig "willkürlicher und ungerechtfertigter Schritt" Londons eine "klare europäische Antwort nach sich ziehen wird". Das würde bedeuten, dass die EU künftig das Brexit-Handelsabkommen zumindest teilweise außer Kraft setzt.

Das würde London schwer treffen. Nach Informationen der "Times" könnte das bedeuten, dass die britische Regierung in einem ersten Schritt deeskaliert, einen Kompromiss sucht und die EU erst später vor vollendete Tatsachen stellt.