Nun ist es so weit: Der SPD-Politiker Olaf Scholz ist am Mittwoch vom Deutschen Bundestag zum neuen deutschen Bundeskanzler gewählt worden. Wie Parlamentspräsidentin Bärbel Bas (SPD) mitteilte, stimmten 395 Abgeordnete für Scholz. Es gab 303 Gegenstimmen und sechs Enthaltungen. Für die sogenannte Kanzlermehrheit notwendig waren 369 Stimmen. Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP verfügen zusammen über 416 Stimmen. Dass Scholz unter dieser Markle blieb, lag daran, dass einige Abgeordnete erkrankt waren - und dass es offenbar auch einige Abweichler gab.

Damit ist die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach 16 Jahren beendet. Scholz ist erst der vierte SPD-Kanzler in der Geschichte der deutschen Bundesrepublik - nach Willy Brandt (1969-1974), Helmut Schmidt (1974-1982) und Gerhard Schröder (1998-2005). Die CDU stellte bisher die vier Kanzler Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Helmut Kohl sowie zuletzt Kanzlerin Merkel.

Scholz sprach im Bundestag die im Grundgesetz festgelegte Eidesformel: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde." Der SPD-Politiker verzichtete auf den Zusatz "So wahr mir Gott helfe". Scholz hatte sich unmittelbar zuvor erstmals auf den Platz des Kanzlers auf der Regierungsbank gesetzt und dafür Applaus von den Abgeordneten der Ampel-Koalition bekommen.

Ein Sitz auf den Regierungsplätzen im Parlament ist für Scholz nicht neu, von 2007 bis 2009 diente er als Arbeits- und Sozialminister, in der vergangenen schwarz-roten Koalition war er Finanzminister. Routine genug besitzt Scholz somit, und an Herausforderungen mangelt es dem neuen Kanzler nicht.

Menschenrechte stärken ohne Wirtschaftseinbußen

Mit den Grünen hat sich der SPD-Mann einen Partner in die Regierung geholt, der sich als "die" Menschenrechtspartei versteht. Auf EU-Ebene ist zu erwarten, dass die Debatten um Rechtsstaatlichkeit noch hitziger geführt werden. Merkel kritisierte die nationalkonservativ-populistischen Regierungen in Polen und Ungarn öffentlich äußerst diskret und suchte nach Kompromissen. Kaum vorstellbar, dass die künftige Außenministerin, die Grüne Annalena Baerbock, derart leise auftreten wird. "Die Ära der Uneindeutigkeit" ende mit Merkel, sagt Ungarns Premier Viktor Orban – und sendet eine klare Botschaft nach Berlin: "Die Samthandschuhe sind ausgezogen."

An die Anwendung des EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus sind dutzende Milliarden für Ungarn und Polen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds gekoppelt. Derzeit verweigert die EU-Kommission – bisher Vorkämpferin im Streit mit den Regierungen in Warschau und Budapest – die Mittel, verlangt etwa, dass Polens Regierung die Unabhängigkeit der Justiz wiederherstellt. Scholz erklärte diese Woche: "Polen ist eine große Nation, eine Demokratie." Aber er machte auch klar, "wir sind eine Union von Staaten, die sich zu Rechtsstaatlichkeit und freiheitlicher Demokratie bekennen".

Außerhalb der EU liegt der mit Abstand größte Handelspartner der Bundesrepublik: China. Auf fast 96 Milliarden Euro summierten sich die deutschen Exporte in die Volksrepublik alleine im vergangenen Jahr. Das Geschäft mit Maschinen, Autos, Elektrotechnik und Chemie floriert ohne unangenehme politische Nebengeräusche. Die immer autoritärere Politik unter Präsident Xi Jinping wird in Berlin lapidar zu "unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellungen" erklärt. Wenig kam etwa von Merkel, als Peking die Demokratiebewegung in Hongkong aushebelte. Dabei war es die scheidende Kanzlerin selbst, die den Dalai Lama 2007 empfing und sich damit Kritik aus China einhandelte. Ob Scholz und Baerbock an diese Zeiten anknüpfen?

Enorm hohe Ziele bei der Energiewende

Ein spezielles Verhältnis pflegt Deutschland auch gegenüber Russland, das unter Wladimir Putin erst nach innen repressiver geworden ist und dann auf der Krim den Tabubruch einer Annexion von Territorium in Europa beging. Im Krieg in der Ostukraine mischt der Kreml verdeckt mit. In einem anderen Nachbarland, Weißrussland, wird der nicht von der Macht lassende Diktator Alexander Lukaschenko gestützt.

Deutschland besitzt einen Hebel gegenüber Russland, die Pipeline Nord Stream 2. Die Röhre in der Ostsee ist fertiggestellt, aber noch nicht am Netz. Aufgrund des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine wird zum wiederholten Mal über die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 diskutiert.

Merkel drückte den Bau der Pipeline durch, auch mit Zustimmung vieler Sozialdemokraten. Das liegt weniger an "Ostalgie" als daran, dass strukturschwache Teile Ostdeutschlands kaum wählerisch bei ihren Partnern sein können. Um jeden Arbeitsplatz wird auch in den Kohlerevieren gekämpft, darunter in Brandenburg. 2038 soll Schluss mit der Kohleverstromung sein, legte Schwarz-Rot fest. Die Ampelparteien wollen das bereits 2030 schaffen – "idealerweise", so lautet die Einschränkung im Koalitionsvertrag.

Bis dahin sollen 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien stammen. Derzeit sind es erst 45 Prozent. Gelingen soll das mithilfe des massiven Ausbaus von Windkraft und Solarenergie. Gleichzeitig soll die Zahl der vollelektrischen Pkw fast verdreißigfacht werden. Bei derart ambitionierten Zielen ist die Fallhöhe beträchtlich.

Finanzierung der Vorhaben unklar

Der Umbau Deutschlands zu einer "sozial-ökologischen Marktwirtschaft", den sich die Regierungsparteien zum Ziel setzen, ist mit hohen Kosten verbunden. Über die Finanzierung der Vorhaben gibt der Koalitionsvertrag hingegen kaum Auskunft. Die FDP konnte durchsetzen, dass Spitzenverdiener keine höhere Einkommensteuer zahlen. Scholz und der liberale Parteichef Christian Lindner, ab Mittwoch auch deutscher Finanzminister, wollen zudem die Schuldenbremse ab 2023 wieder einhalten. Dann ist die Nettokreditaufnahme des Bundes pro Jahr auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzt.

Lindner wird den derzeit höheren Verschuldungsrahmen bis 2023 voll ausschöpfen. Für heuer sollen zusätzlich 50 Milliarden Euro in einem Nachtragshaushalt aufgenommen werden, die dann in einem sogenannten Klima- und Transformationsfonds landen. 2022 soll die Neuverschuldung bei 100 Milliarden Euro liegen.

Besseres Management der Pandemie erforderlich

Sollte das Coronavirus Deutschland noch länger im Griff haben, könnten diese Pläne Makulatur werden. Beim Pandemie-Management zeichneten sich die Ampelparteien erst nicht aus, sie ließen eine gesetzliche Grundlage für harte Maßnahmen auslaufen. Unter dem Eindruck der vierten Infektionswelle mussten SPD, Grüne und FDP nachschärfen. Wie in Österreich liegt das Hauptproblem in der zu niedrigen Impfquote, erst 69 Prozent der Gesamtbevölkerung sind vollständig geimpft. Scholz appelliert nun landauf, landab für den Stich, ruft dafür in der bei Jungen äußerst populären TV-Show "Joko & Klaas" ebenso auf wie bei der "Bild"-Zeitung – jenem Medium, das die Befürworter der Impfpflicht zu "Umkippern" erklärt hatte.

Währenddessen wird in Spitälern am oder über dem Limit gearbeitet, Corona-Intensivpatienten müssen mit Militärmaschinen in andere Bundesländer verlegt werden. Für Spitäler, Pflegeheime oder Arztpraxen wird dieser Tage im Bundestag über eine Impfpflicht diskutiert, die ab Mitte März gilt. Anfang kommenden Jahres werden die Parlamentarier wohl auch eine allgemeine Pflicht zur Impfung verabschieden. Für Ungeimpfte haben die scheidende Regierung – im Einvernehmen mit Scholz – und die Bundesländer einen Quasi-Lockdown beschlossen. In Restaurants, Kinos und Theatern gilt 2G, Zutritt haben nur noch Personen, die geimpft oder genesen sind.

Ob Deutschland damit einem allgemeinen Lockdown entgeht, ist ungewiss. Auch die Konsequenzen der neuen Omikron-Variante sind noch nicht seriös abschätzbar. Kanzler Scholz knüpft also gleich zu Beginn seiner Amtszeit an die Ära Merkel an: Auch er muss als Krisenmanager reüssieren.