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"Russland nutzt Europas Gas-Notlage aus"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Warum sich die Lage bei Gas weiter zu verschärfen droht, erklärt Russland-Experte Gerhard Mangott im Interview.


"Wiener Zeitung":Russland hat am Dienstag den Transport von Erdgas nach Deutschland über die wichtige Jamal-Pipeline gestoppt. Teilweise wurde sogar wieder Gas in Richtung Polen zurückgeleitet. Was steckt hinter dieser Aktion, die auch zu neuen Rekordständen am Gaspreismarkt geführt hat?

Gerhard Mangott: Der Rückfluss des Gases ist eigentlich nur die logische Konsequenz, wenn von russischer Seite kein Transitvolumen zur Durchleitung nach Deutschland gebucht ist. Die Leitung ist dann gewissermaßen leer und dann ist es vernünftig, sie bei Bedarf in die andere Richtung zu benutzen. Dass Russland in letzter Zeit wenig bis überhaupt nichts gebucht hat, ist aber schon ein klares Signal an die Europäische Union, dass Moskau eine Änderung der EU-Gaspolitik fordert. Das betrifft zuallererst natürlich die Ostsee-Gas-Pipeline Nord Stream 2, wo Russland Fortschritte bei der ins Stocken geratenen Zertifizierung sehen will. Das für die europäische Seite Besorgniserregende an diesem Schritt ist, dass Russland ganz klar deutlich gemacht hat, das es Energielieferungen für politische Zwecke nutzen kann. Russland wird zwar seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den europäischen Abnehmern erfüllen, aber es ist offensichtlich nicht bereit, Europa mit mehr Gas zu versorgen, als in diesen Verträgen vereinbart wurde. Solche Mehrlieferungen würden den Europäern helfen, die Explosion der Preise auf dem Gas- und Strommarkt zu stoppen oder umzukehren.

Aber ist das nicht auch aus russischer Perspektive ein Spiel mit dem Feuer? Weil gerade jetzt demonstriert man ja, wie gefährlich die europäische Abhängigkeit von Russland ist. Die Europäer werden nun vielleicht Nord Stream 2 nicht so schnell als Verhandlungsmasse aus der Hand geben und à la longue wird wohl auch das Verlangen größer werden, sich aus der russischen Abhängigkeit zu befreien.

Da gebe ich ihnen recht, vertrauensbildend sind solche Schritte überhaupt nicht. Und es werden natürlich diejenigen in der Europäischen Union bestärkt, die eine Diversifikation weg von Russland wollen oder sogar überhaupt weg vom Gas möchten. Insofern halte ich den russischen Schritt für nicht klug, aber offensichtlich ist die russische Seite davon getrieben, dass die jetzige Gasversorgungsnotlage der Europäer ausgenutzt werden soll, um politischen Druck auf die Europäische Union auszuüben. Für ein Momentum sorgt dabei auch, dass die Europäer ihre Drohungen, auf andere Lieferländer zurückzugreifen, in den vergangenen 15 Jahren nicht erfolgreich haben umsetzten können, weil es in der Praxis an Alternativen fehlt.

Ist das, was wir hier erleben, nicht auch ein Stück weit eine Zeitenwende? In den vergangenen Jahrzehnten waren Gaslieferungen - zumindest in den Westen - tabu, selbst im Kalten Krieg war das kein politisches Instrument.

Das ist sicherlich ein Bruch mit dieser Tradition und es schwächt die Argumentation derjenigen in der EU, die sagen, Russland beziehungsweise die Sowjetunion davor waren immer verlässlich. Russland reagiert nun ganz konkret auf die europäische Gasmarktpolitik, die russische Interessen beschädigt hat. Und es geht hier nicht nur um Zugständnisse bei Nord Stream 2, sondern auch um Preisbildungsprozesse und langfristige Gaslieferverträge, die die Regierung in Moskau den EU-Mitgliedsstaaten abringen wollte.

Es wird aber für europäische Politiker wohl ziemlich schwierig werden, gegenüber Russland standzuhalten, wenn der kalte Winter kommt und die Verbraucher unter explodierenden Gaspreisen stöhnen?

Das ist die Erwartung der russischen Seite, deshalb tritt man auch derart erpresserisch auf. Und vermutlich werden sich diese Erwartungen auch erfüllen, weil die europäischen Gasspeicher nicht voll gefüllt sind und die laufenden russischen Lieferungen nicht ausreichen werden, um den täglichen Gaskonsum zu decken. Die einzige Hoffnung, die man haben kann, ist ein milder Winter, aber das ist eine Hoffnung, auf die man nicht bauen darf.

In Deutschland ist mit der neuen Ampelkoalition die Bereitschaft, Russland entgegenzukommen, zumindest von einer Seite deutlich gesunken.

Ja, zweifellos. Die Grünen waren gegen Nord Stream 2, sie fordern auch eine völlige Abkehr von dieser Verbindung mit Russland. Die FDP ist hier näher an der Position der Grünen als an der der SPD, aber sie dürfte wohl auch mit einem Moratorium für Nord Stream 2 anstelle eines totalen Stopps zufrieden sein. In der SPD gibt es um Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, und dem Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich natürlich eine gewichtige Gruppe, die Nord Stream 2 vorantreiben will. Und der neue Kanzler Olaf Scholz muss mit dieser Gemengenlage zurechtkommen. Allerdings haben die Europäer kurzfristig überhaupt keine Möglichkeit, auf die russischen Schritte zu reagieren, und auch mittel- und langfristig sind die Spielräume nicht sehr groß. Man bezieht zwar mehr Gas aus dem kaspischen Raum und auch der Anteil von Flüssiggas bei den Importen ist erhöht worden, doch schon bei der Lieferung aus Nordafrika, einer weiteren wichtigen Förderregion, ist eine Aufstockung nicht möglich. Das hat einerseits mit den politischen Problemen in Libyen zu tun, anderseits brauchen Länder wie Algerien immer mehr Gas für den heimischen Gebrauch und können ihre Exporte daher nicht steigern. Die einzige Hoffnung, die die Europäer hatten, war Flüssiggas aus den Vereinigten Staaten. Diese Idee, die vor allem in den osteuropäischen EU-Staaten forciert wurde, hat sich aber nicht konkretisiert. Die US-Energiekonzerne verkaufen ihr Flüssiggas lieber zu hohen Preisen in Asien, als es nach Europa zu liefern. Von Russland als Lieferant kommt man derzeit also nicht weg - außer natürlich, man entscheidet sich dafür, vom Gas wegzugehen und rascher zu dekarbonisieren. Aber da ist vor allem für Länder wie Deutschland die Frage, ob man gleichzeitig aus der Kohle und der Atomkraft aussteigen und dann noch die Bedeutung von Gas reduzieren kann.

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