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Kreml greift gegen Menschenrechtler durch

Von Gerhard Lechner

Politik

Die Auflösung der NGO Memorial durch das Höchstgericht zeigt, dass die Luft für Regimekritiker in Russland dünn wird.


Ende November hatte es sich bereits angekündigt, nunmehr ist es beschlossene Sache: Die Menschenrechtsorganisation Memorial International steht in Russland vor dem Aus. Der Oberste Gerichtshof in Moskau hat am Dienstag die Auflösung der renommierten Institution beschlossen. Richterin Alla Nasarowa gab einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft statt.

Die russische Justiz wirft Memorial International vor, wiederholt gegen das Gesetz über ausländische Agenten verstoßen zu haben. Die NGO wurde im Jahr 2016, weil sie Spenden aus dem Ausland annimmt (unter anderem vom liberalen US-Milliardär George Soros), als "ausländischer Agent" eingestuft und damit genötigt, per Gesetz alle öffentlichen Äußerungen in jedem Medium mit diesem Zusatz zu versehen.

Kind der Perestrojka

Memorial war bereits mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden, weil es sich selbst nicht als ausländischen Agenten sieht. Die NGO fordert seit langem die Aufhebung des Gesetzes. Sie weist die Vorwürfe zurück und beklagt politische Verfolgung. Memorial-Vorstand Jan Ratschinski will gegen das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgehen. Die Entscheidung des Höchstgerichts kommt nicht überraschend: Auch am Mittwoch ist beim Moskauer Stadtgericht in Bezug auf das Menschenrechtszentrum von Memorial mit einem analogen Urteil zu rechnen.

Die russische NGO hat mit ihrer Arbeit über die Grenzen des Landes hinaus Bedeutung erlangt. Gegründet Ende der 1980er Jahre in der Spätphase der Sowjetunion, ist sie ein Kind der Perestrojka des damaligen KPdSU-Chefs Michail Gorbatschow. Während dessen Regierungszeit brachen die halb vernarbten Wunden der totalitären Geschichte der Sowjetunion auf, und Memorial kümmerte sich um ihre Aufarbeitung. Erstmals konnten die Menschen in Russland und anderen Sowjetrepubliken offen über die zahllosen Staatsverbrechen in der Anfangsphase der Sowjetunion und unter Diktator Josef Stalin sprechen.

Sowjet-Nostalgie

Mitarbeiter von Memorial setzten sich für Denkmäler für die Opfer des Stalinismus ein und besuchten Überlebende des ehemaligen Lagersystems Gulag. In eigenen Bibliotheken und Archiven lagern Opferkarteien, Häftlingserinnerungen und Unterlagen über Schauprozesse. Außerdem unterstützt die Organisation finanzschwache Überlebende des Gulag-Systems mit Geldbeträgen.

Es dürften zwar nicht diese Tätigkeiten gewesen sein, die die Behörden in erster Linie gestört haben. Dennoch ist es bezeichnend für das immer repressiver werdende Klima in Russland, dass Staatsanwalt Alexej Dschafjarow vor Gericht nun erklärt hat, die Organisation habe mit ihrer Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als "Terrorstaat" dargestellt und verbreite Lügen über das Land.

In den letzten Jahren hat in Russlands Elite die Bereitschaft, sich mit den Verbrechen der Sowjet-Ära zu beschäftigen, deutlich abgenommen. Seit Präsident Wladimir Putin 2012 wieder in den Kreml einzog, fährt er auch geschichtspolitisch einen zunehmend repressiveren, ostentativ patriotischen Kurs. Heute werden auch Aspekte der Politik Stalins wieder verteidigt. Man sieht sich als belagerte Festung - kritische Reflexion umweht da der Geruch des Vaterlandsverrats.

349 politische Gefangene

Und dennoch: Es war wohl nicht die historische Arbeit, die Memorial zur Zielscheibe gemacht hat. Es war der Umstand, dass die NGO politische Verfolgung in Russland anprangert. 349 politische Gefangene listet die Organisation auf. Die russische Justiz stuft viele der auf der Liste angeführten Personen als Extremisten oder Terroristen ein - etwa die Anhänger von Kreml-Gegner Alexej Nawalny. Sie wirft der NGO vor, "das Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen" zu rechtfertigen. Das 2002 beschlossene Gesetz zur Bekämpfung von "Extremismus" - ein schwer zu definierender und weit auslegbarer Gummibegriff - wurde vor allem seit 2012 ständig erweitert. Es war nicht zuletzt Memorial, das diesen Umstand scharf kritisierte.

Im Ausland stieß der Gerichtsbeschluss auf Entsetzen. Das österreichische Außenministerium sprach auf Twitter von einem "schweren Schlag" für alle unabhängigen Stimmen in Russland. Deutsche Menschenrechtsorganisationen und KZ-Gedenkstätten bescheinigten der russischen Führung in einer gemeinsamen Erklärung ein "erschütterndes Selbstzeugnis". Sie bekämpfe die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und wolle Erinnerung monopolisieren.