Die Unsicherheit ist groß. Selbst ob russische Truppen tatsächlich abziehen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Das Verteidigungsministerium in Moskau vermeldete am Mittwoch, russische Streitkräfte hätten ein Militärmanöver auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim beendet und kehrten nun zu ihren Heimatstandorten zurück. Das Ministerium veröffentlichte ein Video, das einen Zug bei Dunkelheit mit Panzern und anderen Militärfahrzeugen auf der Krim-Brücke zeigt.

"Bisher haben wir vor Ort keine Deeskalation gesehen. Im Gegenteil: Russland scheint den Militäraufmarsch fortzusetzen", sagte hingegen Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Er verwies darauf, dass man Bewegungen von Truppen und Kampfpanzern sehe, beweise noch nicht, dass es einen echten Rückzug gebe. "Sie haben Truppen immer vor und zurück bewegt." Laut US-Präsident Joe Biden hat Russland mittlerweile mehr 150.000 Soldaten unweit der Grenze zusammengezogen. Wie es weitergehen soll, beraten auch die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag.

Selbst wenn ein russischer Militärangriff ausbleiben sollte - der Ukraine-Konflikt wäre damit längst nicht beigelegt. Die internationale Aufmerksamkeit richtet sich deshalb wieder verstärkt auf das Minsker Abkommen, durch das die Ostukraine befriedet werden soll. Offiziell bekennen sich alle Seiten zu den Vereinbarungen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete sie bei seinem jüngsten Besuch in Kiew als "einzigen Weg" zum Frieden in der Ukraine, ähnlich äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinen Reisen nach Kiew und Moskau am Montag und Dienstag.

Zwei Vereinbarungen

Es gibt zwei nach der belarussischen Hauptstadt benannte Vereinbarungen: Die erste war im September 2014 von Vertretern der sogenannten Trilateralen Kontaktgruppe unterzeichnet worden, die aus Vertretern Russlands, der Ukraine, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie der selbsternannten Volksrepubliken von Luhansk und Donezk besteht. Vereinbart wurden zwölf Punkte, darunter eine sofortige Waffenruhe, ein Gefangenenaustausch sowie ein OSZE-Monitoring in der Ostukraine.

Minsk I hielt aber nur rund drei Wochen, dann flammten die Kämpfe um den Flughafen Donezk wieder auf. Wenige Monate später war der wichtigste Flughafen im Donbas fast vollständig zerstört.

Die zweite Minsker Vereinbarung wurde von Russlands Staatschef Wladimir Putin, seinem damaligen ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko, der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Francois Hollande ausgehandelt und im Februar 2015 von der Trilateralen Kontaktgruppe unterzeichnet.

Minsk II ergänzt die erste Vereinbarung um 13 Punkte, vorgesehen sind erneut ein sofortiger Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Waffen durch beide Seiten. Darüber hinaus sieht Minsk II den Abzug aller ausländischen Söldner und Truppen aus der Ostukraine, die Wiederherstellung der vollständigen Kontrolle über die ukrainisch-russische Staatsgrenze durch die Ukraine und Wahlen in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten Luhansk und Donezk vor. Die Ukraine soll dem Abkommen zufolge zudem eine Verfassungsreform verabschieden, durch die den von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbass ein Sonderstatus eingeräumt werden soll.

"Keine andere Wahl"

Der erste große Verstoß gegen Minsk II folgte bereits wenige Tage nach seiner Unterzeichnung, als die pro-russischen Separatisten die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Debalzewe verkündeten. Seither wird das Abkommen nach OSZE-Angaben beinahe täglich gebrochen.

Vor allem in der Ukraine bestehen große Vorbehalte gegen das Abkommen. Es sei "mit vorgehaltener Waffe" unterzeichnet worden, kritisiert Iryna Solonenko vom Berliner Zentrum Liberale Moderne. Vor dem Hintergrund einer "russischen Offensive" habe Poroschenko zugestimmt, um weiteren "Blutzoll" zu verhindern. "Poroschenko hatte keine andere Wahl", sagt die Expertin des Thinktanks, deren Leiter bereits 2018 kritisierten, Russland halte sich an keine Regeln mehr. Gegner des Kreml würden ermordet, Krieg sei Mittel der Politik, Trolle attackieren den Westen.

In der Ukraine hätten sich zwei rote Linien herausgebildet, stellt Solonenko klar: So dürften keine Verhandlungen mit den pro-russischen Separatisten stattfinden. Und die Kontrolle der ukrainischen Regierung über die Staatsgrenze sowie die ukrainische Gesetzgebung im von den Separatisten beherrschten Gebiet müssten wiederhergestellt sein, bevor dort Wahlen abgehalten werden könnten.

Erst nach "freien und fairen Wahlen" könne über den Status von Luhansk und Donezk verhandelt werden. In den selbsternannten "Volksrepubliken" hätten inzwischen etwa 600.000 Personen russische Pässe, 1,5 Millionen seien in andere Teile der Ukraine geflohen. Auch deshalb sieht Solonenko das Thema Wahlen als weiteren "Stolperstein" im Minsker Abkommen. (afp/reu/apa)