Fast stoisch reagierte der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, auf Wladimir Putins Rede - die es in sich hatte. Der Kremlherr sprach dem westlichen Nachbarland mehr oder weniger die Daseinsberechtigung ab und forderte die ukrainische Führung auf, im Donbass das Feuer unverzüglich einzustellen. Wenn nicht, so die unverhohlene Drohung, werde Kiew zur Rechenschaft gezogen: eine deutliche Kriegsdrohung aus dem Mund jenes Mannes, der zuletzt bewiesen hat, dass es für ihn kein Halt gibt.
Selenskyj ließ sich nicht aus der Reserve locken. "Wir sind dem friedlichen und diplomatischen Weg treu und werden nur auf diesem gehen", wiederholte der 44-Jährige in einer TV-Ansprache in der Nacht auf Dienstag die übliche Formel. Man behalte sich aber das Recht "individueller und kollektiver Selbstverteidigung" vor. "Wir sind hier in unserem Land, wir fürchten uns vor niemandem und nichts. Wir schulden niemandem etwas, und wir werden niemandem etwas geben. Und wir haben Vertrauen", sagte der Präsident.
Ein unterschätzter Mann
Später am Tag meinte der Ex-TV-Liebling, dass er trotz der rollenden russischen Panzer weiterhin nicht an einen raumgreifenden Krieg gegen die Ukraine glaube. Damit ist er einer Linie treu geblieben, die er seit Beginn des Konflikts verfolgt. "Was sollen wir tun?", so Selenskyj schon im Jänner. "Nur eines: ruhig bleiben." Und während Moskau knapp 200.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammenzog, zuckte der frühere Komiker nach außen kaum mit der Wimper.
Wobei Skeptiker in der Ukraine den Verdacht lange nicht abschütteln konnten, dass der politisch Unerfahrene - Selenskyj wurde erst 2019 ins Amt gewählt und hatte sich davor als einer, der im Fernsehen derbe Witze reißt, einen Namen gemacht - mit dem Konflikt heillos überfordert sein könnte. Immerhin hat er in Moskau den international wohl hartgesottensten und skrupellosesten Politiker zum Gegner. Auch der ukrainische Politologe Mykola Dawydjuk war lange Zeit der Ansicht, dass Selenskyj auf dem internationalen Parkett von der Komplexität der Fragestellungen wohl überfordert sein werde.
Hier wurden die Fähigkeiten Selenskyjs unterschätzt. Hinter vorgehaltener Hand zeigen sich jetzt immer mehr westliche Politiker durchaus beeindruckt von der Art und Weise, wie Selenskyj die Krise handhabt. "Ehrlich gesagt, schlägt er sich nicht schlecht", meinte ein Diplomat zur Nachrichtenagentur AFP. Selenskyj bewahre einen kühlen Kopf. Und: "Er hat einen unmöglichen Job, er ist gefangen zwischen dem Druck sowohl der Russen als auch der Amerikaner."
"Gebt uns Waffen"
Dass der relativ junge ukrainische Präsident von vielen Seiten unter Druck steht, betont auch der slowakische Politik-Experte Milan Zitny im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". In der politischen Realität der Ukraine sei der Einfluss vor allem der Oligarchen groß. "Wir dürfen uns die Demokratie in der Ukraine nicht in westlichem Zuschnitt vorstellen", sagt Zitny. Und die von ihm angeführten steinreichen Geschäftsleute haben unterschiedliche Interessen. Die moderaten Töne, die Selenskyj gerade jetzt, wo die Krise ihrem Höhepunkt zustrebt, anschlägt, sei auch diesen, einander widersprechenden Einflussfaktoren zuzuschreiben, meint Zitny. Klar ist für den Slowaken, dass die ukrainische Führung nur sehr bedingt US-amerikanischen Ratschlägen folgen kann.
Wobei Selenskyj eine durchaus klare Botschaft an Moskau hat: Man werde sich nicht provozieren lassen, so der Ukrainer an den Kreml, habe ein System der territorialen Verteidigung errichtet und werde von Partnerländern militärisch unterstützt. Klar ist für die allermeisten Ukrainer, dass an der jüngsten Eskalation ausschließlich Moskau schuld ist.
Zuletzt allerdings wurden die ukrainischen Rufe nach mehr internationaler Hilfe, nach einschneidenden Sanktionen und nach Waffen eindringlicher. Bei der am Sonntag zu Ende gegangenen Münchner Sicherheitskonferenz verlangte der ukrainische Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko von Deutschland "mehr als 5.000 Helme". "Gerade jetzt brauchen wir mehr Verteidigungswaffen." Außenminister Dmitro Kuleba ruft den Westen in der Sanktionsfrage zum raschen Handeln auf. Es sei jetzt nicht mehr die Zeit für endlose Diskussionen, es müssten vielmehr Entscheidungen getroffen werden.
Uneinige Generalität
Die ukrainische Zurückhaltung hingegen ist dadurch erklärbar, dass die Handlungsmöglichkeiten beschränkt sind. Eine Offensive im Osten wäre angesichts der russischen militärischen Überlegenheit selbstmörderisch. Überhaupt sehen sich die Ukrainer halbkreisförmig von überlegenen Streitkräften umzingelt. Die russische Armee ist modern und schlagkräftig, doch auch die Ukraine hat sich nach der Annexion der Krim durch Putin auf diesem Gebiet weiterentwickelt. Militärexperten gehen davon aus, dass ein raumgreifender Angriff Russlands "kein Spaziergang" würde. Mit gleicher Selbstverständlichkeit stellen sie fest, dass die ukrainische Luftabwehr in wenigen Stunden ausgeschaltet und die Armee rasch besiegt wäre.
Dazu kommt, dass es innerhalb der ukrainischen Generalität verschiedene Ansichten gibt, wie im Kriegsfall konkret vorzugehen wäre, heißt es von informierter Seite. Dass die Ukrainer in einem zweiten Schritt zu einem Guerillakrieg bereit wären, der Russland massive Verluste zufügen könnte, liegt aber auf der Hand.
Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksiy Resnikow schwört seine Landsleute unterdessen auf harte Zeiten ein. "Vor uns liegen schwere Prüfungen. Es wird Verluste geben. Wir werden Schmerzen durchstehen, Angst und Verzweiflung überwinden müssen", erklärte Resnikow am Dienstag. Am Ende aber werde die ukrainische Seite siegen.