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Angst vor Putins Rollkommandos

Von Michael Schmölzer

Politik

Laut US-Informationen droht der Ukraine eine einzigartige Säuberungswelle. Der Kreml spricht von "Entnazifizierung".


Rollkommandos, die in Kiew Straßenblock um Straßenblock nach Menschen durchkämmen, die Präsident Wladimir Putins Plänen im Weg stehen: Während russische Stoßtrupps am Freitag in die Hauptstadt der Ukraine eindrangen und sich Panzer von Norden näherten, kündigt sich eine von langer Hand vorbereitete Säuberungswelle an. Nach US-Informationen hat Moskau umfangreiche Listen von Personen erstellt, die nach der militärischen Besetzung der Ukraine festgenommen, getötet oder in Lager geschickt werden sollen: Putins Todeslisten.

Washingtons Botschafterin bei der UNO in Genf, Bathsheba Nell Crocker, hat in einem Brief an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, geschrieben, es gebe glaubwürdige und "verstörende" Informationen, wonach "Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe" geplant seien. In dem Schreiben ist die Rede davon, dass in der Zeit nach der Invasion "Folter, gewaltsames Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen und weit verbreitetes menschliches Leid" an der Tagesordnung stehen würden. Weiter heißt es, dass die USA Geheimdienstinformationen dazu hätten, "dass die russischen Streitkräfte wahrscheinlich tödliche Maßnahmen anwenden werden, um friedliche Proteste aufzulösen".

Präsident Selenskyj als Hauptziel der Russen

Offiziell spricht Russland von "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" der Ukraine. Im Visier der Rollkommandos, die sich bereits im Land befinden, stehen allerdings unter anderem russische und weißrussische Dissidenten, die sich im Exil in der Ukraine aufhalten. Auf Putins Todeslisten sollen zudem ukrainische Journalisten und Antikorruptionsaktivisten, ethnische Minderheiten und Schwule, Lesben und Transsexuelle angeführt sein. Der Kreml hat diese Vorwürfe umgehend zurückgewiesen und spricht von einer "Lüge".

Hauptziel der Russen ist laut US-Angaben der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der in "vielerlei Hinsicht die demokratischen Bestrebungen und Ambitionen der Ukraine und des ukrainischen Volkes" verkörpert, wie ein Sprecher des US-Außenministeriums sagte. Besonders im Visier Moskau steht auch der prominente Bürgermeister von Kiew, Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko. Er ist ein Symbol für den ukrainischen Widerstandsgeist.

Unklar war zuletzt, welche Personen Putin nach dem anvisierten Regimewechsel in der Ukraine als künftige, Moskau-hörige politische Führung installieren will. Die für ihn geeigneten Kandidaten dürfte er aber schon gefunden haben. In der "Oppositionsplattform", der Nachfolgepartei der Russland-freundlichen "Partei der Regionen" des 2014 gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch, gibt es genug Anwärter.

Etwa den weithin bekannten Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, einen engen Freund Putins. Er befindet sich derzeit unter anderem wegen Hochverrats in Haft, könnte aber künftig im Hintergrund die Fäden ziehen. Denkbar wäre auch, dass Putin den gestürzten Ex-Präsidenten Janukowitsch reaktiviert, der sich seit 2013 im Exil in Moskau befindet.

Allerdings ist die Person Viktor Janukowitsch für die meisten Ukrainer und Ukrainerinnen ein derart rotes Tuch, dass ein weiterer Aufstand logisch wäre. So könnte sich Putin für einen noch weitgehend unbekannten Politiker als künftiges willfähriges Werkzeug entschieden haben.

Experten, unter ihnen der Innsbrucker Russland-Kenner Gerhard Mangott, sind skeptisch, ob ein prorussischer Regimewechsel so simpel über die Bühne geht, wie sich Putin das unter Umständen vorstellt. Einer derartigen Regierung würde sich wohl rasch eine wütende Protestbewegung entgegenstellen, um sie wieder aus dem Amt zu jagen. Denn die Ukrainer sind, das ist aus dem bisherigen militärischen Kampfverlauf ersichtlich, bereit, sich mit Zähnen und Klauen gegen die feindliche Übernahme zur Wehr zu setzen.

Mit dem Mut der Verzweiflung

Am Freitag wurde in der Ukraine heftig gekämpft, Militärexperten zeigen sich vom Durchhaltevermögen der Angegriffenen überrascht. Für die Menschen in der Hauptstadt Kiew wurde es allerdings von Minute zu Minute gefährlicher. Es gab Raketenangriffe, von Norden näherten sich russische Panzer, nahe dem Regierungsviertel wurde geschossen. Es handelte sich dabei laut ukrainischen Angaben um Sabotageaktionen russischer Trupps. Das Verteidigungsministerium rief die Bevölkerung auf, sich mit Molotowcocktails bereit zu machen, die Eindringlinge zu melden oder selbst zu "neutralisieren".

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Auch die ukrainische Armee kämpfte am Freitag in Kiew gegen vordringende russische Truppen. Im nördlichen Bezirk Oblonsky kam es zu Gefechten, auch Explosionen waren bis ins Stadtzentrum zu hören. Menschen liefen in Scharen weg, um sich in Sicherheit zu bringen.

Sollte sich die russische Führung den Krieg in der Ukraine als "Spaziergang" vorgestellt haben, so wurden die Herren in Moskau bis dato enttäuscht. Der Vorstoß von Osten aus den Separatistengebieten blieb am Freitag nach wenigen Kilometern stecken, es gab glaubwürdige Berichte über abgeschossene russische Panzer. Die Ukraine hat zuletzt vor allem von Großbritannien und den USA panzerbrechende Waffen bekommen, die rund um Kiew zum Einsatz kommen sollen.

Auch die ukrainische Luftabwehr war vorerst noch intakt. So wurde am Freitag ein Flugzeug über Kiew abgeschossen. Die Rede ist auch von zahlreichen getöteten russischen Soldaten, auch wenn die von Kiew genannte Zahl von 2.800 Gefallenen nicht stimmt. Zudem ist unklar, wie es um die Kampfmoral der Invasoren steht. Tatsache ist, dass viele Russen Verwandte oder andere Beziehungen zur Ukraine haben und der Angriff allgemein nicht sehr populär ist. Die Ukrainer hingegen kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung.