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Die große Entkoppelung

Von Walter Hämmerle

Politik

Die dreißigjährige Verflechtung der russischen Wirtschaft und Gesellschaft mit Europa wird rückabgewickelt.


Es fällt uns oft schwer, aktuelle Ereignisse richtig in einen größeren historischen Kontext einzuordnen. Meistens wird deren Tragweite überschätzt. Nicht so im Fall der russischen Invasion der Ukraine, ist Stanislav Secrieru überzeugt. Der Experte für europäisch-russischen Beziehungen forscht am Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien. Und Secrieru sieht eine historische Zäsur im Verhältnis Russlands zu Europa. Die "Wiener Zeitung" erreichte ihn in Paris am Telefon.

"Wiener Zeitung": Herr Secrieru, die Invasion der Ukraine wird von vielen als Bruch verstanden, als Beginn einer neuen, dunkleren Ära. Teilen Sie diese Einschätzung?Stanislav Secrieru: Ja, dieser Angriff bedeutet das Ende einer Periode, die mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion begonnen hatte. Wir konnten dreißig Jahre relativen Friedens genießen, die EU erlebte sowohl eine Vertiefung als auch Erweiterung nach Norden und Osten, was mehr Wohlstand für mehr Menschen bedeutete. Darüber hinaus entwickelte die Union eine wirtschaftliche Partnerschaft mit Staaten wie der Ukraine, von der beide Seiten stark profitierten. Und anstatt jetzt darüber nachzudenken, wie wir diese Ära von Frieden, Stabilität und Wohlstand weiter fortsetzen können, sind wir mit den Konsequenzen eines massiven Kriegs mitten in Europa konfrontiert.

Wie werden die Folgen dieser Zäsur aussehen?

Es ist noch zu früh, um das mit Sicherheit beurteilen zu können. Klar ist aber, dass die Konsequenzen vor allem für die Energiesicherheit in Europa grundlegend sein werden, und zwar ab sofort wie auch langfristig. Die Frage des Imports von Öl und Gas wird in der EU völlig neu diskutiert werden. Sicher ist, dass es zu einer allgemeinen Erhöhung der Budgets für Sicherheit und Verteidigung kommen, und zwar insbesondere in all jenen Staaten, die an Russland und Belarus angrenzen, sogar über die bisher vereinbarte Grenze von 2 Prozent der Wirtschaftsleistung hinaus; einige Staaten haben bereits angekündigt, auch ihre Truppenstärke zu erhöhen. Belarus ist faktisch zu einer russischen Militärbasis geworden, von der ein Teil der Invasion ihren Ausgang genommen hat. Zudem ist heute noch völlig unklar, ob die Ukraine als unabhängiger Staat diesen Krieg überleben wird, und wenn ja, in welchen Grenzen. Das gilt auch für Staaten wie die Republik Moldau, die an die Ukraine grenzt, oder Georgien, das ein Nachbar Russlands ist. Sie sehen: Wir stehen vor vielen offenen Fragen. Klar ist nur, dass wir am Donnerstag den bisher dunkelsten Tag im 21. Jahrhundert erlebt haben, auch wenn dieses Jahrhundert noch jung ist. Ein Krieg zwischen einem Land mit 144 Millionen Einwohnern und einem mit 44 Millionen ist einfach unglaublich.

Präsident Putin ließ sich weder von Bitten noch drohenden Sanktionen aufhalten. Gleichzeitig machte der demokratische Westen deutlich, dass er nicht bereit sei, einen Krieg mit Russland wegen der Ukraine zu riskieren.

Wir haben erlebt, dass Sanktionen alleine keine zum militärischen Handeln entschlossene Macht abhalten. Vor allem aber haben wir nicht die richtigen Schlüsse aus dem Kaukasuskrieg von 2008, als Moskau einige Regionen Georgiens besetzte, und aus der Annexion der Halbinsel Krim 2014 gezogen. Selbst nach diesen dramatischen Ereignissen hat Europa Russland eine erneuerte Form der Kooperation angeboten. Damit haben wir die Erwartungen des Kreml geprägt, wie die EU für den Fall eines neuen militärischen Konflikts reagieren würde. So entstand in Moskau der Eindruck, die EU brauche Russland mehr als umgekehrt.

Für die Energieversorgung Europas stimmt das durchaus, jedenfalls derzeit noch.

Es geht nicht darum, ob dieser Eindruck objektiv richtig oder falsch ist. Wichtig ist allein die subjektive Einschätzung der russischen Elite, wie Europa auf einen Angriff reagieren würde. Hinzu kommt noch ein weiterer grundlegender Unterschied: Wenn ein Problem auftaucht, versucht Europa eine Lösung zu finden; für Russland ist ein Problem ein Mittel, um seine eigenen Interessen zu verfolgen. Deswegen sehen wir, dass Moskau immer wieder Krisen kreiert, sei es durch offene oder versteckte Aktionen, und diese Probleme dann gegen Europa einsetzt, um seine Ziele durchzusetzen. Wir haben es also mit gegensätzlichen Logiken zu tun. Für Europa bedeutet dies, dass wir viel Geduld aufbringen müssen, wenn es um Probleme mit Russland geht. Wir dürfen nicht auf schnelle Lösungen setzen und dabei dem Kreml Vorteile zugestehen, sondern müssen versuchen, diese Krisen langfristig zu managen.

Gilt diese Einschätzung für Russland generell oder nur für Putins Regime?

Wir wissen nicht, wie eine Zeit nach Putin aussehen wird, wir können nur unvollkommene historische Analogien ziehen. Nach der Zwangsherrschaft Stalins erlebte die Sowjetunion beispielsweise eine verhältnismäßig liberale Ära unter Chruschtschow; daran schloss sich eine Periode der Stagnation unter Breschnew an, bis in den 1980er Jahren mit Gorbatschow überraschend ein Führer auftauchte, der auf radikale Reformen setzte. Für heute heißt das, dass wir mit beiden Optionen rechnen müssen, also einem weiteren Hardliner oder einem neuen Anlauf für Reformen. Letzteres muss nicht notwendigerweise von einer Person ausgehen, es ist auch vorstellbar, dass die Gesellschaft Öffnungen einfordert. Doch für solche Spekulationen ist es zu früh, Putin wird noch einige Jahre die Zügel in der Hand halten, das ist jedenfalls meine pessimistische Erwartung. Früher oder später wird die russische Gesellschaft aber nicht umhinkommen, einen schmerzhaften Prozess der Selbstreflexion zu beginnen und dabei die Frage zu beantworten, wie solche furchtbaren Ereignisse geschehen konnten. Warum ist es ihr nicht gelungen, ihre Führung einer gewissen Kontrolle zu unterwerfen?

Wie wahrscheinlich ist aus Ihrer Sicht eine neuerliche russische Revolution?

Auch das ist schwer zu beurteilen. Ich vermute, und dafür gibt es bereits Hinweise, dass Putin durch die jüngsten Ereignisse eher ermutigt wird, gegen die interne Opposition mit Härte vorzugehen, weil er die Kontrolle über die Information behalten muss, um etwa Bilder russischer Opfer zu zensieren. Zudem werden die massiven Sanktionen Putin eher das Gefühl geben, dass seine Macht gefährdet sein könnte.

Ist es nicht wahrscheinlich, dass die EU nach einer gewissen Zeit wieder auf die Normalisierung der Beziehungen zu Russland drängt? Das Land dominiert geografisch die Nachbarschaft Europas und anhaltende harte Sanktionen sind schlecht für die Wirtschaft.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Invasion der Ukraine ist ein Bruch, der weltweite Folgen nach sich zieht, wirtschaftliche, politische und darüber hinaus. Solange Putin an der Macht ist, wird es keine normalen Beziehungen geben. Das hat teilweise mit einem neuen Blick der Öffentlichkeit zu tun: Umfragen zeigen, dass Moskau zusehends als Bedrohung empfunden wird. Dazu tragen auch die jetzigen Ereignisse bei, die die Brutalität des russischen Vorgehens auch gegen Zivilisten offenlegen wird. Vor allem aber wird der Krieg eine umfassende Abkopplung Russlands von Europa bewirken, die weit über den Energiesektor hinausgehen wird. Wenn wir in den vergangenen drei Jahrzehnten eine stete Integration der russischen und europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften gesehen haben, werden wir in Zukunft Zeugen von deren Rückabwicklung.

Wird Russland sich dann nicht China und seinem riesigen Markt zuwenden, um seine Rohstoffe zu verkaufen?

Wir sehen bereits seit zwanzig Jahren eine stärkere wirtschaftliche Annäherung an China, das hat sich nach 2014 noch beschleunigt. Trotzdem wird es weitere zehn Jahre dauern, bis Moskau seine Energieimporte von Europa nach China umdirigieren kann. Die jetzigen Sanktionen werden sich aber nicht auf Energie beschränken, sondern vor allem auf Finanzwirtschaft und neue Technologien abzielen. China wird nicht bereit sein, seine Märkte in Europa und den USA zu opfern, nur um Russland zu helfen. China hätte dabei viel zu verlieren. Und selbst wenn, wird es dann China sein, von dem Russland zur Gänze anhängig ist.