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Raketen auf Wohnviertel

Von Michael Schmölzer

Politik

Will Russlands Präsident Putin den Krieg gewinnen, muss er Kiew einnehmen. Die Zahl der zivilen Opfer steigt.


Wie weit wird der russische Präsident Wladimir Putin im Krieg mit der Ukraine gehen? Diese Frage wird drängender, je länger die Kämpfe andauern. Der Kremlherr hat keine Scheu, mit seinem Atomwaffen-Arsenal zu drohen. Jetzt schon steigt die Zahl getöteter ukrainischer Zivilsten, weil russische Raketen in Wohngebiete, Regierungsgebäude und einen TV-Turm einschlagen. Die Ukraine klagt über Kriegsverbrechen, in Moskau wird das dementiert. Die UNO spricht von 100 getöteten Zivilisten. Die meisten seien durch den Einsatz "von explosiven Waffen mit einem großen Aufprallbereich" ums Leben gekommen, heißt es hier.

Russlands Verteidigungsminister und Putin-Intimus Sergej Schoigu weist darauf hin, dass die Ukrainer mehrere Raketensysteme, Kanonen und Mörser "in den Höfen von Wohngebäuden, in der Nähe von Schulen und Kindergärten" aufgestellt hätten und Zivilisten als militärische Schutzschilde zu missbrauchten.

Die russische Führung hat bis jetzt versucht, die Ukraine mit "Präzisionsangriffen" auf militärische Infrastruktur und mit Stoßtrupps, die nach Kiew und Charkiw eingeschleust wurden, unter ihre Gewalt zu bekommen. Das hat bis dato nicht funktioniert, Putin droht jetzt eine blamable Niederlage. Die Ukrainer sind nicht bereit nachzugeben, sie kämpfen. Wenn Putin also Kiew und Charkiw einnehmen will, muss er die eigene haushohe militärische Überlegenheit ausspielen: Das bedeutet aber nach "Präzisionsangriffen" großflächige Angriffe auf Kiew und den Einsatz von von Raketen. Das ukrainische Außenministerium hat ein Video veröffentlicht, auf dem zu sehen ist, wie eine Rakete in unmittelbarer Nähe der Regionalverwaltung einschlägt. Zu sehen ist, wie enorm die Zerstörungskraft derartiger Geschosse ist.

Sollte Putin also den militärischen Sieg über die Ukraine erzwingen wollen und sollten die Ukrainer bis zum Letzten kämpfen, wäre ein fürchterliches Sterben zahlloser unschuldiger Zivilisten, die sich immer noch in der Stadt befinden, die Folge.

Rauch über Fernsehturm

Nach Angaben des britischen Geheimdienstes hat das russische Militär den Einsatz von Artillerie im Norden Kiews, Charkiws und in Tschernihiw bereits verstärkt. Am Dienstagnachmittag forderte die russische Seite Bürger Kiews, die in der Nähe "strategischer Ziele" leben, auf, ihre Häuser zu verlassen. Dann wurde in der Hauptstadt der Fernsehturm nach russischem Beschuss getroffen, die Ausstrahlung des TV-Programms war unterbrochen.

Das Problem ist, dass Putin im Krieg gegen die Ukraine die Entscheidungen weitgehend alleine trifft. Nachdem er bereits enorm viel Porzellan zerschlagen hat und zunehmend unberechenbar agiert, ist fraglich, ob ihm der Schutz ziviler Leben noch ein Anliegen ist.

Dazu kommt, dass immer mehr ukrainische Zivilisten bewaffnet werden, damit als Kombattanten gelten und ein legitimes militärisches Angriffsziel sind. Zahllose "Freiheitskämpfer" sind mit Gewehren oder Molotowcocktails ausgerüstet, sie tragen keine offiziellen Uniformen, sondern sind nur durch gelbe oder blaue Bänder gekennzeichnet.

Während die russische Armee ihren Zugriff verstärkt, verlegt man sich in Kiew auf unkonventionelle Verteidigungsstrategien: So garantiert Kiew russischen Soldaten, die sich ergeben, dass sie unbehelligt bleiben und Geld bekommen. "Trefft eure Wahl. Kommt ohne Waffen und mit weißer Flagge heraus", so Verteidigungsminister Olexij Resnikow auf Facebook. Geboten werden jedem Deserteur umgerechnet mehr als 40.000 Euro. Finanziert werde die Aktion von der internationalen IT-Industrie. "Jeder, der sich weigert, ein Besatzer zu sein, bringt den Frieden näher. Für diejenigen, die den Weg des Besatzers wählen, wird es keine Gnade geben!", so Resnikow.

Ukrainischen Angaben zufolge sollen bisher mindestens 200 russische Soldaten gefangen genommen worden sein. Verhörvideos nach zu urteilen sollen sie geglaubt haben, an einem Manöver teilzunehmen - tatsächlich aber zum Kämpfen in die Ukraine geschickt worden sein. Diese Angaben sind angesichts eines umfassenden Propagandakriegs freilich mit Vorsicht zu genießen.

Keine "Spezialoperation"

Unterdessen wird auch TikTok bei jungen ukrainischen Influencern immer mehr zur Plattform für Kriegsberichte. Sie verbreiten Videos über die russische Invasion, zeigen weinende Menschen in fensterlosen Luftschutzbunkern, Explosionen in ukrainischen Städten und rollende Panzer. Aufgeräumt werden soll mit dem von Putin gestreuten Gerücht, dass es sich bei dem Einsatz um eine "Spezialoperation" handle. "Ich möchte, dass die Leute verstehen, dass dies kein Scherz ist, dies ist eine ernste Situation, mit der die Ukrainer konfrontiert sind", so die 20-jährige Marta Vasyuta in einem Interview. Experten warnen allerdings auch davor, dass die Plattform ganz intensiv für Falschmeldungen genutzt werde.

In der Ukraine geht man davon aus, dass Russland eine Desinformationskampagne vorbereitet, um den Durchhaltewillen der Ukrainer zu brechen. So könnte die Meldung in Umlauf gebracht werden, dass die ukrainischen Generäle und Politiker kapituliert hätten. Die ukrainische Führung setzt dem eine eigene, umfassende Kampagne entgegen.