An der Front in den Sozialen Medien ist die Ukraine eindeutig überlegen - zumindest in jenen Diensten, die in der EU, den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien bevorzugt genutzt werden. Die ohnehin nicht sehr hohe Kampfmoral vieler russischer Soldaten soll dort weiter unterminiert werden. Lächerlich gemacht wurde die Armee von Präsident Wladimir Putin im Besonderen von einem ukrainischen Bauern: Er schleppte einen russischen Panzer ab, dem offensichtlich der Treibstoff ausgegangen war. Millionenfach wurde das Video bisher abgerufen.

Der Clip und alles Herzblut der Ukrainer können jedoch nicht über die Überlegenheit der russischen Truppen hinwegtäuschen. Vier Frontabschnitte haben sich seit Kriegsbeginn Ende Februar herausgebildet: um die Hauptstadt Kiew im Norden; der Kampf um die zweitgrößte Stadt des Landes, Charkiw, im Nordosten; im Südosten, ausgehend von den "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk; und im Süden, von der Krim wegführend.

Seit die Halbinsel 2014 von Russland annektiert worden ist, sind nicht nur Milliarden in Infrastrukturprojekte geflossen, allen voran die Brücke zur Schaffung einer Landverbindung. Systematisch wurden Truppen auf der Krim aufgebaut. Dementsprechend verbucht Russland an der Südfront seine bisher größten militärischen Erfolge. Die knapp 300.000 Einwohner zählendende Stadt Cherson im Mündungsdelta des Flusses Dnjepr ins Schwarze Meer wurde eingenommen.

Richtung Odessa

Nächstes Ziel der Armee ist Mykolajiw. Die Stadt liegt strategisch günstig nahe der Mündung des südlichen Bugs ins Schwarze Meer und zählt knapp eine halbe Million Einwohner im 44-Millionen-Land. Ukrainische Truppen eroberten zu Wochenbeginn den Flughafen zurück: "Wir haben sie verjagt", verlautbarte der Gouverneur des Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim. Zwar könnten derzeit dort keine Maschinen abheben. "Aber der Flughafen ist unser", sagte Kim.

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Sollte Mykolajiw doch fallen, stünde den russischen Truppen der Landweg nach Westen offen. Odessa, drittgrößte Stadt der Ukraine mit einer Million Einwohnern, befände sich dann in fremder Hand. Landungsschiffe der russischen Marine ankern bereits vor dem Hafen am Schwarzen Meer. Sie werden wohl zum Einsatz kommen, wenn die Landtruppen noch weiter Richtung Westen durchgebrochen sind. In Odessa herrscht bisher womöglich auch deshalb verhältnismäßig Ruhe, weil Bürgermeister Gennadi Truchanow einer prorussischen Partei angehört. Forscher des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel führen in ihrer Analyse der militärtischen Lage an, in Odessa gebe es große Klagen, wonach die Stadtverwaltung sich nicht ausreichend darum bemühe, die Verteidigung zu organisieren. Auch werde vermutet, dass der Chef der Stadtverwaltung plant, den anrückenden russischen Truppen die Kapitulation anzubieten.

Ebenfalls gut sind die russischen Aussichten an der Südost-Flanke. Auch hier hatte Russland bereits vor Kriegsbeginn mehr als einen Fuß in der ukrainischen Tür; waren die separatistischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk doch Gebiete von Gnaden Putins - auch wenn Russland stets jegliche direkte Einmischung abstritt. Kurz vor Ausbruch des Krieges erklärte Moskau auch seine offizielle Unterstützung zur Unabhängigkeit beider Territorien.

"Wir werden einfach zerstört"

Deren Kämpfer versuchen nun im Verbund mit der russischen Armee, Mariupol einzunehmen. Mit knapp 440.000 Einwohnern handelt es sich nicht nur um die zehntgrößte Stadt der Ukraine. Mariupol ist auch von größter strategischer Bedeutung: Fällt es, steht Russland eine direkte Landverbindung von der Krim bis zu den Gebieten im Donbass zur Verfügung. Über Tage herrschte daher Dauerbeschuss. "Wir werden einfach zerstört", klagte Bürgermeister Wadim Boitschenko. Es gebe kein fließendes Wasser mehr, keinen Strom, keine Heizung. Zudem würden die Lebensmittel knapp. Mehrere Evakuierungsversuche scheiterten, am Dienstag schossen russische Truppen laut ukrainischen Angaben entlang einer entsprechenden Route.

Für die Ukraine ist Mariupol der wichtigste Zugang zum Asowschen Meer. Die Aussicht, dort keine Kontrolle mehr auszuüben und entlang des Schwarzen Meeres bis nach Odessa Territorium an Russland zu verlieren, ist für die Regierung in Kiew verheerend.

Um die Kapitale wird der auch symbolisch wichtigste Kampf ausgefochten. Präsident Selenskyj und Bürgermeister Vitali Klitschko haben sich noch immer nicht in den sicheren Westen der Ukraine zurückgezogen. Mit einem Häuserkampf ist zu rechnen und mit Zerstörungen, wie sie bereits an der vierten Front zu sehen sind: in der zweitgrößten Stadt Charkiw. Neben Tschetschenen sollen auch Syrer aufseiten Russlands für den Sieg in den Großstädten sorgen - und sei es mit einem Blutbad. (da/reuters/dpa)