In der Ukraine herrscht Krieg. Um diesen überhaupt als solchen zu benennen, benötigte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche nach dem Einmarsch der Truppen zehn Tage. Kritik von Kirill I. muss Russlands Präsident Wladimir Putin aber nicht fürchten. Vielmehr stilisiert der Patriarch von Moskau die Gefechte und das Leid der Bevölkerung zu einer "sehr einfachen und entsetzlichen Loyalitätsprüfung" zwischen West und Ost. Ein Zeichen dafür sei, keine "Schwulenparaden" zu ertragen. Gegen derartige Kundgebungen setzten sich die Bürger in den ostukrainischen Separatistengebieten seit Jahren ein, dafür würden sie "gewaltsam unterdrückt", sagt der Patriarch.

Wieder konnotieren die Spitzen von Politik und Kirche in Russland westliche Werte nicht als positiv, ziehen nicht Rechtsstaatlichkeit oder Pluralismus heran. Stets geht es ihnen um die Abgrenzung zum vermeintlichen Hort von Dekadenz und Säkularismus, um den Abfall vom rechten Glauben.

Seit Jahrhunderten ist das Verhältnis Russlands zum Westen ambivalent. Bereits die Reformen von Peter dem Großen (1672-1725) seien umstritten gewesen, erinnert Vasilios Makrides. Der Professor für Religionswissenschaft/Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums an der Universität Erfurt verweist auf große Spannungen auch im 19. Jahrhundert zwischen Slawophilen und Westlern, den sogenannten Zapadniki. Die Sowjetunion war zwar ein Projekt der Moderne, aber in scharfer ideologischer Abgrenzung zum kapitalistischen Westen. Nach ihrem Zusammenbruch erwies sich die Einschätzung, Russland würde sich analog zu den früheren kommunistischen Satellitenstaaten an den Westen annähern, als Trugschluss. Dazu beigetragen hat auch die bitter enttäuschte Hoffnung auf Wohlstand für weite Bevölkerungsteile.

Die in den 1990ern entstandene Oligarchen-Kaste ließ Wladimir Putin unberührt - sofern sie sich nicht in die Politik einmischte. Politisch bedeutete sein Amtsantritt im Jahr 2000 aber eine Zäsur: Statt des schwachen, vom Alkohol gezeichneten Boris Jelzin sollte wieder ein "starker Mann" Russland zu früherem Stolz führen - auch dank antiwestlichem Vokabular. Zur selben Zeit veröffentlichte die orthodoxe Kirche ihre Sozialdoktrin, die sich mit Bioethik und Globalisierung, Krieg und Freiheit, Arbeit und Eigentum sowie dem Verhältnis von Kirche, Staat und Nation auseinandersetzte. "Die Schrift bedeutete eine klare Abgrenzung von den wichtigen Errungenschaften der - westlichen - Moderne wie Pluralismus, Liberalismus, Säkularität sowie der Trennung von Kirche und Staat", erklärt Makrides gegenüber der "Wiener Zeitung". Sie markierte die Fortsetzung eines antiwestlichen Kurses, den die Kirche seit Ende der UdSSR betrieb.

Kiew, die "Mutter der russischen Städte"

Treibende Kraft hinter der Schrift war Kirill, der 2009 zum Patriarchen gewählt wurde. Er diente wie Putin einst dem KGB. Heute symbolisieren die beiden Männer die enge Verbindung von Staat und Religion. Von einer "offenen Sakralisierung der Politik, teilweise nach byzantinischem und zaristischem Vorbild" spricht Vasilios Makrides. "Die Symbolik von Putins Fernsehansprachen, etwa mit dem doppelköpfigen Adler auf dem Banner, deutet auf kaiserliche Verbindungen unmissverständlich hin."

Für Putin und Kirill ist die heutige Ukraine kein gewöhnlicher Nachbarstaat, sondern integraler Bestandteil der eigenen Identität. Im Jahr 988 ließ sich Wladimir der Große in Kiew taufen. Sein Reich, die Kiewer Rus, gilt somit als Wiege der russisch-orthodoxen Kirche. Als "Mutter der russischen Städte" bezeichnete Kirill die ukrainische Hauptstadt. Seine Kirche trägt auch den Titel "Patriarchat von Moskau und der ganzen Rus" - wirkt also weit über die Grenzen des heutigen Russland hinaus. Seit Jahrhunderten besteht in der Ukraine eine orthodoxe Kirche, die dem Moskauer Patriarchen unterstellt ist.

Der große Bruder in Moskau und die "Russische Welt"

Neben Russland und der Ukraine ist Weißrussland drittes Territorium der historischen Rus. Diese politische wie spirituelle Einheit bemüht auch Putin stets, spricht von "Brudervölkern". Es ist kein Verhältnis auf Augenhöhe, der große Bruder in Moskau will die Richtung bestimmen.

Das übergeordnete politische Konzept dazu ist die "Russische Welt" (Russkij mir), sie umfasst neben der Ukraine und Belarus auch die Russischsprachigen und Russischstämmigen in anderen Ex-Sowjetrepubliken und in westlichen Ländern selbst. Seit 2007 besteht auch eine gleichnamige Stiftung. Diese trage "Soft Power"-Interessen Russlands in die Welt, etwa mithilfe einer Dreifaltigkeitskathedrale und eines russisch-orthodoxen spirituellen und kulturellen Zentrums mitten in Paris, weist Vasilios Makrides hin. Nicht nur russophile Personen sollen sich angezogen fühlen, sondern auch jene, denen die gesellschaftliche Liberalisierung daheim im Westen zu weit geht.

In diese "Russische Welt" passt die heutige Ukraine höchstens bedingt. Anders als Russland und Belarus ist sie religiös, sprachlich und politisch extrem vielfältig. Über Jahrzehnte kämpften drei orthodoxe Kirchen um Gläubige, Einfluss und Kirchenstätten, darunter die Moskau unterstellte Ukrainisch-Orthodoxe Kirche. Infolge der Krim-Annexion 2014 und der "Volksrepubliken" im Donbass forcierte der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko die Fusion zweier Kirchen zur Orthodoxen Kirche der Ukraine. Diese wurde Anfang 2019 vom Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I., als eigenständig anerkannt. Er gilt als "Ehrenoberhaupt" der mehr als 220 Millionen Orthodoxen weltweit.

Machtstellung Konstantinopels angegriffen

Empört brach Moskau die Verbindungen nach Konstantinopel ab. Auch sonst steht Kirill in Konkurrenz zur Mutter aller Ostkirchen. Er will die Führungsrolle in der orthodoxen Welt einnehmen, mit rund 150 Millionen russisch-orthodoxen Gläubigen im Rücken.

Der Krieg in der Ukraine sorgt jedoch für Kritik aus den eigenen Reihen. Der Kiewer Metropolit Onufrij der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche forderte nicht nur das unverzügliche Ende der Gewalt. Er erklärte auch, dass seine Kirche die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine verteidige. Die neue Ukrainisch-Orthodoxe Kirche steht selbstredend auf der Seite von Präsident Wolodymyr Selenskyj, ebenso wie die mit Rom unierten Kirchen, die in der Westukraine stark verankert sind. In dieser Region des Landes wurde die Zugehörigkeit zur "Russischen Welt" stets zurückgewiesen.

In ihrer Ablehnung des russischen Feldzugs hat Putin Ost- und Westukrainer, russisch- und ukrainischsprachige Bürger sowie orthodoxe und andersgläubige Einwohner des Landes in bisher nie dagewesener Form vereint. Sollte Russland die Ukraine dennoch einnehmen können, würde sie die neue orthodoxe Kirche womöglich nicht verbieten, aber zumindest marginalisieren, erwartet Vasilios Makrides. Scheitert der Feldzug, könnte nicht nur Putins Regentschaft in Gefahr sein, sondern auch das Moskauer Patriarchat an Bedeutung verlieren. All das sei aber noch mit zu vielen Unsicherheiten verbunden.