Zum Hauptinhalt springen

"Schickt Geld und keine Pakete!"

Von Thomas Seifert aus Lemberg

Politik
Andrij Sadowyj ist als Bürgermeister von Lemberg seit dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine nicht nur für eine Million Lemberger zuständig, sondern die Stadt versorgt nun auch 200.000 Geflüchtete.
© Thomas Seifert

Der Bürgermeister von Lemberg, Andrij Sadowyj, über Hilfsmaßnahmen und den Kampf gegen Russland.


Der Bürgermeister von Lemberg (Lwiw), Andrij Sadowyj, hat seine Gäste früher im Anzug empfangen. Heute trägt er - wie sein Präsident - ein militärbraunes Hoodie. Er will eine totale Isolation Moskaus.

"Wiener Zeitung": Was sind die größten Herausforderungen für Ihre Stadt in Kriegszeiten?Andrij Sadowyj: Wir haben unsere Prioritäten komplett verändert: Die oberste Priorität sind für mich die neuen Gäste. Wir haben 200.000 neue Bürgerinnen und Bürger in der Stadt - Menschen, die vor dem Krieg in anderen Landesteilen geflohen sind. Wir haben also eine immense Verantwortung gegenüber diesen Menschen. Zweitens: die Unterstützung der ukrainischen Armee, der Aufbau einer Territorialverteidigung für die Stadt und die Peripherie. Und drittens ist da immer noch eine ganze Stadt zu verwalten. Auf ihr lastet ein unglaublicher Druck. Aber das ist in Kriegszeiten leider eben so. Meine Kollegen in Mariupol, in Charkiw, in Tschernihiw befinden sich in einer viel schwierigeren Lage als wir in Lwiw.

Sie haben gesagt, dass Sie 200.000 Geflüchtete in der Stadt beherbergen. Wie funktioniert die Versorgung dieser Menschen?

Wir nutzen zur Unterbringung Schulgebäude, Sporthallen, Theater und Kultureinrichtungen- jeder freie Quadratmeter ist belegt. Hotels, Hostels, Apartments. Das Wichtigste ist aber, dass tausende und abertausende meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger Geflüchtete bei sich zu Hause beherbergen. Die Menschen in Lemberg haben ihren Landsleuten ihre Herzen und Türen geöffnet.

Eine Sache, die mich ein wenig betrübt: In den vergangenen Wochen habe ich in Lemberg bisher keine der bekannten internationalen Organisationen angetroffen. Wahrscheinlich arbeiten die irgendwo, aber ich habe sie in Lemberg noch nicht in Aktion gesehen. Die substanziellste Hilfe kommt derzeit von den Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmen der Stadt. Wir haben aber auch Unterstützung von unseren Partnerstädten bekommen.

Wie kann Lemberg den Geflüchteten helfen?

Seit 2006 ist er Bürgermeister von Lemberg, wo er 1968 geboren wurde. Seit 2021 ist der liberale Aktivist auch Parteivorsitzender der Samopomitsch (Selbsthilfe).
© Thomas Seifert

Nach Angaben von Experten kostet es ungefähr rund eine Million Euro pro Tag, um jene Menschen, die nach Lemberg gekommen sind, zu versorgen. Für die Ukraine ist die Lage ja nicht neu: Schon im Jahr 2014 gab es nach dem Kriegsausbruch in der Ostukraine und der Annexion der Krim durch Russland eine Flüchtlingsbewegung.

Seit wann haben Sie die Stadt auf eine Situation, wie wir sie heute in Lemberg vorfinden, vorbereitet?

Vergangenes Jahr hat die Stadt Lwiw an einem Resilienzprogramm am York Emergency Planning College teilgenommen. Nach meiner Rückkehr habe ich meiner Energieabteilung den Auftrag erteilt, die Wasserversorgung der Stadt auch für den Fall eines längeren Stromausfalls sicherzustellen. Wir haben damals eine Anzahl von Dieselgeneratoren gekauft. Meine Kollegen haben mich zuerst angesehen, als wäre ich jetzt komplett durchgedreht. Manche sahen mich an, als sei ich ein Idiot. Einige meinten: "Ernsthaft? Wovon redet der überhaupt?" Ich aber habe umso mehr darauf beharrt und immer wieder wiederholt: "Wir müssen dieses Projekt durchziehen!" Ich habe gesagt, dass uns harte Zeiten bevorstehen.

Man muss die Psychologie in so einem Prozess verstehen: Niemand führt sich gerne vor Augen, dass schlimme Dinge passieren könnten. Wir haben gelernt, dass das denkbar Schlimmste auch Realität werden kann. Wir alle haben zusammengearbeitet. So hat etwa auch die Armee bestimmte Einrichtungen aus der Stadt verlegt, um dem Feind keine Angriffsziele in dicht bewohntem Gebiet zu bieten und so die Zivilbevölkerung zu schützen. Wir haben große Medikamentenvorräte angelegt und weitere Vorbereitungsmaßnahmen getroffen. Aber am wichtigsten war es wohl, dass wir uns mental auf so eine Situation vorbereiten. Wenn man nämlich ein normales Leben führt, dann ist es ganz schwer, sich auf eine derartige Notsituation einzustellen.

Erst vor wenigen Tagen gab es einen Angriff auf ein Öllager in der Stadt. Wenn so etwas passiert, was bedeutet das für Sie als Bürgermeister?

Sobald die Sirene ertönt, wissen wir, dass wir eine halbe Stunde haben, bevor irgendwo eine Rakete einschlägt. Der Feind hat zuletzt Treibstofflager angegriffen - sie wissen, dass die Aussaat in den landwirtschaftlichen Gebieten beginnt, das wollen sie uns so schwer wie möglich machen.

Sie meinten, Sie seien vorbereitet gewesen. Die Hilfsorganisationen schienen jedoch eher überrascht gewesen zu sein.

In den meisten westlichen Szenarien ist man davon ausgegangen, dass der Krieg maximal ein paar Tage dauern würde. Man hat geglaubt, dass Russland innerhalb weniger Tage die Ukraine überrennen würde. Das war vielleicht der Grund, warum die NGOs nicht so gut vorbereitet waren. Ich kann mir schon vorstellen, dass die internationale Staatengemeinschaft Statements vorbereitet hatte, in dem diese Aggression aufs Schärfste verurteilt worden wäre. Etwa mit diesen Worten: "Wir sind tief besorgt über die Aggression..., wir fordern Russland auf..., bla bla bla." Aber dann lief die Sache doch etwas anders. Und dann haben sich drei Millionen Menschen auf dem Weg in die Europäische Union gemacht.

Wie lauten Ihre Forderungen an die internationalen Hilfsorganisationen?

Wir beherbergen heute 200.000 geflüchtete Menschen in unserer Stadt. 50.000 von ihnen werden wohl in den nächsten drei, vier, fünf Jahren in Lwiw bleiben. 150.000 werden vielleicht an ihre Herkunftsorte zurückkehren. Für unsere Stadt bedeutet das, dass wir für 50.000 Menschen Unterkünfte bauen müssen, dass wir Schulplätze, Kindergartenplätze, Spitalsbetten brauchen. Wir müssen rund 1.000.000 Quadratmeter neue Wohnflächen schaffen. Dafür brauchen wir sehr viel Kapital.

Bekommen Sie Nahrungsmittelhilfe, Treibstoff, Medikamente aus den westlichen Nachbarländern?

Aus Lwiw senden wir tonnenweise Hilfslieferungen in andere Orte der Ukraine. Was immer wir bekommen, schicken wir gleich Richtung Osten und Südosten weiter. Und wir haben mit manchen der Hilfslieferungen auch Probleme, etwa mit Kleiderspenden. Für mich sieht es so aus, als wäre bei vielen Spenden das gegeben worden, was man zu Hause nicht mehr brauchen konnte - ich will nicht falsch verstanden werden oder undankbar erscheinen. Wir schätzen die Hilfe und die Solidarität sehr und bedanken uns dafür. Aber wir brauchen Geld und keinen Wintermantel. Schickt Geld und keine Pakete! Das ist am besten, weil wir dann genau jene Dinge auf den internationalen Märkten kaufen können, die wir benötigen. Die Ukraine ist seit jeher ein Brotkorb für weite Teile der Welt. In den ersten Tagen des Krieges waren die Lieferketten unterbrochen, aber langsam kehrt Normalität zurück. Wir wissen, wo wir Dinge, die wir brauchen, kaufen können.

Und weil ich heute Journalistenbesuch habe, möchte ich einen weiteren Punkt ansprechen. Unsere Medien brauchen Hilfe: 90 Prozent der Medien der Ukraine sind in der Hand von Oligarchen. Nur zehn Prozent sind wirklich unabhängige Medien. Sie sind auf Inseratengelder angewiesen; die Medien der Oligarchen haben mehr Durchhaltevermögen. Wenn also der Krieg vorbei ist und niemand die unabhängigen Medien unterstützt, dann werden nur mehr die Medien der Oligarchen existieren, die uns dann ihre Version der Wahrheit präsentieren.

Welche politischen Erwartungen haben Sie an die EU, an den Westen?

Die internationale Staatengemeinschaft muss die Ukraine mit aller Kraft unterstützen. Denn eine Niederlage Russlands bedeutet auch, dass Wladimir Putin zurücktreten muss. Und das wäre eine neue Chance für die gesamte Welt. Russland war in den vergangenen Jahrzehnten ein unglaublicher Ursprung für Korruption, der Kreml hat Parteien und Politiker in aller Welt einfach gekauft. Die einzige Lösung ist heute komplette Obstruktion: Russland muss komplett isoliert werden. Es muss diesen Krieg verlieren und Reparationen bezahlen. Wir brauchen Waffen, um uns zu verteidigen, wir brauchen aber auch Offensivwaffen, um Russlands Armee wieder von unserem Territorium zu vertreiben.

Russland bekommt jeden Tag eine Milliarde Dollar vom Westen für Öl, Gas und Erze überwiesen, obwohl es uns jeden Tag attackiert. Manche glauben immer noch, Freiheit, Würde und Geschäfte mit Russland seien miteinander vereinbar. Wenn die Entscheidung aber Freiheit oder Business lautet, dann kann die Antwort doch nur lauten: Freiheit.



Das Interview wurde gemeinsam mit David Nauer (SRF) geführt.