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Lieber zurück in den Osten

Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer

Politik

Ungarns Opposition kämpft gegen die Russland-Nähe von Premier Orban an - mit ungleichen Mitteln.


Unabhängigkeit von Medienkonsum kann in Ungarn auch so aussehen: Janos Backa, von Beruf Holzfäller, wohnt am Rand von Maroslele in der Puszta. Er liest weder Zeitungen noch schaut er fern. Aber er ist fest entschlossen, an diesem Sonntag gegen die Partei von Viktor Orban zu stimmen: "Ich komme in der Gegend herum und rede mit Leuten. So informiere ich mich", sagt der 70-Jährige an diesem windig kühlen Tag. "Orbans System muss weg. Er hat das Land mit seiner Korruption zugrunde gerichtet, seine Freunde haben sich bereichert." Janos Backa begrüßt freudig einen der 30 Kleinbusse mit Megafon, die das Oppositionsbündnis um Orbans Herausforderer Peter Marki-Zay in die ungarische Provinz schickt, um die letzten Unentschlossenen dazu zu bewegen, zu den Urnen zu gehen. Letzten Umfragen zufolge liegt Orbans Partei Fidesz nur knapp zwei Prozentpunkte vor dem Bündnis von Marki-Zay.

"Je kleiner die Dörfer in Ungarn, desto anfälliger sind sie für den Druck des Fidesz", sagt Tibor Antaloczy. Hat ein Ort wie etwa Maroslele keine oder nur wenige Einnahmen durch Unternehmenssteuern, ist er materiell völlig vom Staat abhängig. Deswegen habe so gut wie jeder Dorfbürgermeister ein Interesse daran, sich mit Fidesz gut zu stellen. Antaloczy lenkt seit Tagen einen der Megafon-Kleinbusse von Dorf zu Dorf durch die südungarischen Region Csongrad.

Fünf Momente in Richtung Demokratie

Die Lokalzeitungen sind von der Regierung gleichgeschaltet, die wenigen Oppositionsmedien dringen in das 2.000-Seelen-Dorf Maroslele nicht vor. Die Menschen reagieren - auch hier - unterschiedlich auf die Megafon-Busaktion: Drei Straßen weiter weg von Oppositionswähler Janos Backa wird Orban gewählt: Jawohl, Fidesz sei korrupt, sagt der pensionierte Busfahrer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will - "aber wer ist das nicht?" Und ja, Orban habe mit Russlands Präsident Wladimir Putin verhandelt - aber das hätten doch auch andere westeuropäische Politiker getan.

Nicht wenige Oppositionelle hatten gehofft, dass der entsetzliche Krieg, mit dem Putin die Ukraine überzogen hat, Orban im Wahlkampf schaden würde - angesichts der traumatischen historischen Erfahrungen der Ungarn mit dem Zarenreich und mit der Sowjetunion. Doch laut Umfragen nach Kriegsbeginn trat das Gegenteil ein, Orban gewann Punkte. Das überrascht und entsetzt auch den Historiker Laszlo Eörsi, einen der wichtigsten Spezialisten für den Ungarn-Aufstand von 1956, den das damals stalinistische Moskau blutig niedergeschlagen hatte. "1956 war das ungarische Volk ein ganz anderes als heute", sagt Eörsi. "Es gab damals Solidarität und Zusammenarbeit. In Ungarns Geschichte gab es immer wieder Momente, in denen die Gesellschaft offen war, in denen man sich auf die Demokratie zubewegte und nicht erwartete, dass der Staat alles regelt. Das war die 1848er Revolution, nach den Kriegen 1918 und 1945, der Aufstand 1956 und die Wende 1989/90." Ausschlaggebend dafür, dass in Ungarn das "Verlangen nach Wiederherstellung eines autokratischen Staats" die Oberhand gewonnen habe, sei die berühmt-berüchtigte Rede, die 2006 der damalige sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany hielt, meint Eörsi. Gyurcsany hatte damals seine Parteifreunde von der Notwendigkeit von Reformen überzeugen wollen - und dabei aufgefordert, das "Lügen" zu beenden. Die an sich geheime Rede sickerte durch, löste gewaltsame Proteste der von Fidesz geführten Opposition in Budapest aus und leitete den Niedergang der Sozialistischen Partei ein, der 2010 zum Wahlsieg Orbans führte.

Dass aber Orban den "Putinismus" in seinem Land salonfähig gemacht habe, sei dessen persönliche "riesige Leistung", die er mit seinem Charisma und seinem Propagandatalent erreicht habe, meint Eörsi. Denn Ungarns Gegnerschaft zu Russland habe eine lange Tradition. Schon 1849 habe das damalige Zarenreich zur Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfs beigetragen. Noch negativer sei das Russland-Bild in Ungarn nach dem Entstehen der K.u.k.-Doppelmonarchie geworden, durch das Erstarken des Panslawismus. Orban sei es gelungen, eineinhalb bis zwei Millionen Ungarn hinter sich zu scharen, die "auf religiöse Weise" an ihn als Führer glauben, meint Eörsi. "Kaiser Franz Josef und Miklos Horthy waren auch populär - aber dieses heutige religiöse Niveau ist einzigartig."

Aggressives Werben um Auslandsungarn

Trotzdem wirkt Orbans Lager alles andere als siegessicher. Immer aggressiver wird verkündet, die Wähler hätten am 3. April zwischen "Krieg und Frieden" zu entscheiden - wobei Orban das Friedenslager vertrete, weil er direkte Waffenlieferungen an die Ukraine verweigert. Marki-Zay wird als Kriegstreiber dargestellt, da er die Nato-Politik unterstützt. Weil es für Fidesz knapp werden könnte, werden auch die Auslandsungarn aus den Nachbarländern aggressiv umworben. In Siebenbürgen hofft Orban auf etwa eine halbe Million Wählerstimmen und damit auf ein bis zwei Sitze für Fidesz im Parlament. Die dortige Partei der ethnischen Ungarn (RMDSZ) ist aktiv am Transport der ausgefüllten Briefwahlzettel beteiligt. Die Opposition befürchtet massiven Wahlbetrug in diesem Zusammenhang, zumal RMDSZ radikal und offen auf Pro-Orban-Kurs ist. Kein RMDSZ-Politiker war auch nur zu einem Treffen mit Marki-Zay bereit. Als der Oppositionsführer kürzlich in einem Café im siebenbürgischen Cluj (Klausenburg) eine Wahlkampfveranstaltung abhielt, hackten Orban-Fans die Website des betreffenden Lokals und bestückten diese mit obszönen Fotos.

Angst vor Betrug war auch der Grund, weshalb die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) diesmal Beobachter zu den ungarischen Wahlen entsandt hat - ein Vorgang, der für eine gefestigte EU-Demokratie unüblich ist. Regierungsnahe Quellen, die nicht genannt werden wollen, berichten der "Wiener Zeitung", dass Orbans Apparat die jetzige OSZE-Präsenz durchaus fürchte.

Den Historiker Eörsi erinnert die jetzige Situation an ein in Ungarn sehr bekanntes Gedicht des Klassikers Endre Ady (1877-1919), in dem dieser seine Heimat mit einer Fähre vergleicht, die stets vom östlichen zum westlichen Ufer gleitet. "Aber lieber zurück", also in den Osten, lautet Adys bittere Pointe.