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Orbans "illiberale Demokratie" ist einzementiert

Von Alexander Dworzak

Politik

Selbst wenn Viktor Orbans Partei die Parlamentswahl nicht gewinnt: Das System bleibt, erklärt Politologin Melani Barlai.


Der Schlüssel für das Wirken Viktor Orbans liegt in der Parlamentswahl 2010: Seine Partei Fidesz und der kleine Partner KDNP erreichten eine Zwei-Drittel-Mehrheit an Mandaten. Sogleich begann Orban, den Staat umzubauen. Lange Zeit in der EU hingenommen, steht das von Orban ab 2014 zur "illiberalen Demokratie" erklärte Projekt für die Aushöhlung des Rechtsstaates, Desinformation der Bevölkerung durch Gleichschaltung von Medien, Gängelung der Zivilgesellschaft, Vertreibung der renommierten Universität CEU, Hetze gegen sexuelle Minderheiten, intransparenten Umgang mit EU-Fördergeldern bei gleichzeitigem wundersamen Reichtum von Orban nahestehenden Personen und Angstmache vor angeblichen Feinden; bevorzugt "Brüssel" und George Soros. Die Regierung verbreitete die Mär eines "Soros-Plans", wonach der ungarischstämmige Investor und Mäzen Millionen Muslime nach Europa bringen möchte.

"Wiener Zeitung": Über welche besonderen Fähigkeiten verfügt Viktor Orban, dass er sich seit fast zwölf Jahren im Amt hält?

Melani Barlai: Er ist Jurist und versteht, wie man Systeme kritisieren oder gar aushöhlen kann und sich dabei im legalen Rahmen bewegt. Er hat anfangs, bei seinem Sieg 2010, auch von der Wirtschaftskrise profitiert. Dabei hat er auch aus seiner Wahlniederlage 2006 gelernt und Berater unter anderem aus den USA engagiert. Eingezogen ist damit eine in Ungarn noch nicht dagewesene Form des Negative Campaigning gegenüber politischen Konkurrenten. Orbans Wahlkampagnen drehen sich stets um zwei Aspekte: Wirtschaftsthemen, kombiniert mit einer Kultur- und Wertedebatte.

Was bedeutet das konkret?

Die Wähler müssen glauben, dass es ihnen wirtschaftlich besser geht als unter Orbans Vorgänger Ferenc Gyurcsany, der von 2004 bis 2009 amtierte. Fidesz-Wähler sind vor allem daran interessiert, wie es in ihrem Portemonnaie aussieht. Deswegen verteilt Orban vor der Wahl auch Geldgeschenke. Dazu gehören die Preis-Obergrenze für sechs Lebensmittel, Benzin und Diesel und niedrige Gastarife dank Verträgen mit Russland. Erst diese Woche startete Fidesz eine neue Kampagne, in der es heißt, eine niederländische Familie bezahle 650 Euro pro Monat, in Ungarn würde die Rechnung beim selben Verbrauch nur 120 Euro betragen. In kultureller Hinsicht versteht es Orban, sich als jene Person darzustellen, die weiß, wie die "ungarische Seele" tickt. Dahinter steckt das weltweite Spannungsverhältnis zwischen jenen, die von der Globalisierung profitieren und den Verlierern dieser Entwicklung; Personen, die keine Fremdsprachen sprechen, kaum ins Ausland gereist sind. Ihnen verspricht Orban die Stärkung der Familie, der Nation, eine homogene Gesellschaft und bietet ihnen somit eine Alternative.

Wer sind typische Fidesz-Wähler?

Personen, die auf dem Land oder in kleineren Städten leben. Menschen mittleren Alters und betagte Personen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie der Partei gegenüber extrem treu sind. Insbesondere bei älteren Frauen gilt Orban als charismatisch. Die Opposition wird hauptsächlich von Jüngeren, besser Gebildeten und in den Städten gewählt.

Orbans Rezepte sind also altbekannt. Warum kann die Opposition dennoch nichts entgegensetzen?

Weil das manipulative Wahlsystem die Gründung von sogenannten "Fake-Parteien" belohnt und somit die Entstehung einer fragmentierten Parteienlandschaft fördert. Dazu kommt, dass sie ihre Botschaften nur sehr schwer anbringen können. Über 90 Prozent der Medien befinden sich entweder in staatlicher Kontrolle oder gehören Orban-nahen Unternehmern. Zudem werden irrationale Summen an Steuergeldern für den Wahlkampf der Regierungsparteien ausgegeben, auch für den Wahlkampf in den sozialen Medien. Das jetzige Sechs-Parteien-Bündnis gegen Orban reicht von links bis rechts; das Wahlprogramm kam sehr spät und hat wenig inhaltliche Kanten. Spitzenkandidat Peter Marki-Zay äußert sich immer wieder widersprüchlich, das sorgt für Unruhe im Bündnis. Im Gegensatz dazu bekommt die Öffentlichkeit nie mit, wenn es bei Fidesz Streit gibt. Der interne Zusammenhalt ist sehr groß.

Der Unmut über Orban entlud sich gelegentlich auf der Straße, etwa bei Massenprotesten gegen eine Steuer auf Internet-Datenverkehr oder in Unterstützung der Universität CEU. Warum ebbten die Proteste für die Uni wieder schnell ab?

Im Fall der CEU demonstrierten Leute in den Städten, am Land wussten viele Personen nicht einmal, was die CEU ist. Hingegen war der Protest gegen die Internetsteuer erfolgreich, sie wurde nicht eingeführt. Denn auch Personen außerhalb der Zentren verfügen über Internet und sträubten sich. Wichtig ist, die Struktur in den Dörfern zu verstehen: Dort herrscht ein klientelistisches System, in dem Abhängigkeitsstrukturen dominieren. Es gibt staatliche Arbeitsprogramme, und die Bürgermeister verteilen die Jobs. Die Leute haben daher Angst, Fidesz zu kritisieren.

Regt sich auch keine Kritik an der Korruption, an den Oligarchen in Orbans Universum?

Viele Leute nehmen das politische System in Ungarn als unveränderbar wahr und damit die Situation hin. Wenn sie Sündenböcke suchen, dann sind es nicht die Oligarchen, sondern jene, die ihnen Fidesz anbietet: "Brüssel", die Nato oder George Soros.

Man muss bedenken, in Ungarn gibt es keine politische Bildung an Schulen, junge Menschen werden nicht in politischem Denken geschult. Das war bereits vor Orban so. Unter den 18- bis 29-jährigen EU-Bürgern sind die Ungarn die am wenigsten politisch aktiven. Das zeigt sich auch an der Wahlbeteiligung. Sie lag 2018 in der Altersgruppe bei nur 44 Prozent, in der Gesamtbevölkerung aber bei 70 Prozent.

Bei der Wahl am Sonntag ist ein Sieg von Fidesz wahrscheinlich. Falls die Opposition doch gewinnt, wird sie aufgrund der auf Fidesz zugeschnittenen Wahlkreise keine Zwei-Drittel-Mandatsmehrheit erreichen. Was können Orbans Gegner mit einfacher Mehrheit ändern?

Praktisch nichts. Fidesz hat alle wichtigen Gesetze zu seinen Gunsten umgestaltet, angefangen mit dem Wahlsystem. Orban hat genehme Personen an zentralen Stellen einzementiert, sei es im Verfassungsgericht, bei der Medienaufsicht und in der Notenbank. Medien wie auch Universitäten wurden in Stiftungen ausgelagert. Höchstens auf kommunaler Ebene kann die Opposition derzeit Einfluss ausüben. Ohne konstitutionelle Revolution besteht somit kaum Spielraum für Viktor Orbans Gegner.

Gibt es irgendeinen Bereich, den Fidesz noch durchdringen müsste, oder kann sich die Partei nach einem Wahlsieg auf die Beibehaltung des Status quo konzentrieren?

Es gibt nur eine einzige Sache, die Orbans Partei ein Dorn im Auge ist: dass sie Budapest nicht mehr kontrolliert und 2019 an die Opposition verloren hat.