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Zur Defensive verdammt

Von Michael Schmölzer

Politik
Ukrainischer Soldat nördlich von Kiew. Russland hat Einheiten nach Osten verlegt.
© reuters / M. Djurica

Heftige Kämpfe im Osten der Ukraine. Verteidiger leisten Widerstand, entscheidende Erfolge können sie nicht erzielen.


Nach den Gräueltaten russischer Soldaten im Kiewer Vorort Butscha ist man im Westen offenbar zur Überzeugung gelangt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine verlieren muss.

Am Donnerstag beriet die Nato in Brüssel, wie nun weiter vorzugehen sei. Der ebenfalls eingeladene ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wies drauf hin, dass sein Land jetzt drei Sachen brauche: "Waffen, Waffen und Waffen". Der beste Weg zu helfen sei, dem Land alles Notwendige zur Verfügung zu stellen, um die russische Armee schlagen zu können, so Kuleba.

Die EU und die USA wollen den Kreml mit umfassenden Sanktionen zum Einlenken bewegen. Das Problem aus ukrainischer Sicht ist, dass die Zeit davonläuft. Die Verteidiger haben den Angriff auf Kiew vorerst zurückschlagen können, die Invasoren haben sich eine blutige Nase geholt. Doch all das hat der ukrainischen Seite keine Verschnaufpause gebracht.

Aufruf zur Flucht

Laut US-Erkenntnissen hat Russland 24.000 Soldaten aus der Region Kiew nach Weißrussland und Russland abgezogen. Die Einheiten sollen dort wieder kämpffähig gemacht werden, um im Osten der Ukraine eingesetzt zu werden. Dort startet Moskau jetzt eine neue Offensive, russische Truppen haben bereits in den Regionen Donezk, Luhansk und Charkiw umfassende Angriffe gestartet. Das Zentrum der seit Wochen umkämpften Stadt Mariupol schien am Donnerstag in russischer Hand zu sein.

Die nahe Zukunft wird zeigen, ob Putins Streitkräfte im Osten in ein komplettes militärisches Desaster schlittert oder ob es den Angreifern gelingt, die ukrainischen Streitkräfte - 30.000 Mann - zu umzingeln und zur Kapitulation zu zwingen. Kiew geht davon aus, dass Moskau zehntausende zusätzliche Soldaten in die Schlacht wirft, damit Putin der russischen Bevölkerung doch noch einen glanzvollen Sieg präsentieren kann.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat deshalb die Menschen in den Gebieten Luhansk, Donezk und Charkiw zur Flucht aufgerufen, "wir werden kämpfen und uns nicht zurückziehen", so Selenskyj.

Kurzfristig entscheidend wird sein, ob die Ukrainer rasch ausreichend schwere Waffen bekommen. Die Nato hat den Bedrängten, die offenbar tatsächlich mit einem kolonialen Auslöschungskrieg konfrontiert sind, am Donnerstag neues Kriegsgerät zugesichert. Kiew verlangt händeringend seit Wochen Flugzeuge, Panzer, Flugabwehrsysteme und mobile Raketenwerfer. Bis jetzt hat die Ukraine vom Westen in erster Linie moderne Panzer-Abwehrwaffen bekommen, die geschultert werden und der russischen Seite große Verluste beschert haben.

Mit Sowjet-Stahl

Das Problem aus Sicht der ukrainischen Armee ist, dass man in der Lage sein muss, von der Defensive in die Offensive umzuschalten. Nur so könnte der Krieg im Sinn der Ukraine entschieden werden. Dazu fehlen den Verteidigern aber an allen Schauplätzen die militärischen Mittel.

Die deutsche "Zeit" führt in ihrer Ausgabe vom Donnerstag an, dass ein erfolgreicher ukrainischer Gegenangriff nur mit einem koordinierten Vorgehen von Panzertruppen, Kampfhubschraubern, schwerer Artillerie und Kampfjets möglich ist. Bis jetzt ist der Westen vor der Lieferung derartiger Waffen aus Angst zurückgeschreckt, Putin, der seine atomaren Arsenale gefechtsbereit gemacht hat, zu reizen. Ein zweiter Punkt ist, dass die ukrainischen Soldaten mit westlichen Hightech-Systemen zunächst gar nichts anfangen, weil sie diese nicht bedienen können. Die Ausbildung an deutschen Schützenpanzern etwa würde bis zu sechs Wochen dauern, bei den Abraham-Panzern der USA ist es ähnlich.

Die Tschechische Republik hat nun damit begonnen, alte sowjetische T-72 Panzer in die Ukraine zu verfrachten. Das hat den Vorteil, dass das Militär dort diese Panzer kennt und sofort an der Front einsatzfähig machen kann. Die Ukrainer haben bereits zahlreiche derartige Panzer von Russland erbeutet. Präsident Joe Biden hat Kiew zuletzt versprochen, dass die Vereinigten Staaten als Vermittler fungieren würden, um die Fahrzeuge aus der Sowjet-Ära in die ostukrainische Kampfzone zu bringen.

Sollte das rasch gelingen, dann wäre die ukrainische Seite unter Umständen in der Lage, den russischen Angriff abzuwehren. Kenner der Lage gehen aber mittlerweile davon aus, dass der Krieg lange dauern wird. Die deutsch-französischen Sicherheitsexpertin Florence Gaub meinte am Donnerstag in Wien, dass ein Blitzkrieg ein sehr seltenes Phänomen sei und Kriege zwischen zwei Staaten im Schnitt 15 Monate dauerten. In diesem Fall wäre es aus Nato-Sicht unter Umständen sinnvoll, ukrainische Soldaten an westlichen Systemen auszubilden. Großbritannien lieferte bereits mehrere hochmoderne Flugabwehrsysteme.

Jeder Zivilist ein Ziel

Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich russische Kriegsverbrechen wie die in Vororten von Kiew wiederholen.

Der deutsche Bundesnachrichtendienst BND hat jetzt laut "Spiegel" die Funksprüche russischer Soldaten, die sich über Morde an Zivilisten unterhielten, abgehört. Demnach kann der BND einzelnen Funksprüche bestimmten getöteten Zivilisten zuordnen. Und es sollen russische Söldnergruppen an dem Massaker beteiligt gewesen sein.

Laut den deutschen Erkenntnissen folgten die Tötungen einer klaren Strategie. Demnach ist aus Sicht der russischen Angreifer jeder Einwohner, der sich nach Schließen der humanitären Korridore noch in einer Stadt aufhält, ein legitimes militärisches Ziel. Wobei völlig unerheblich ist, ob diese Korridore die Evakuierung von Zivilisten tatsächlich ermöglicht haben.