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Rascher Durchbruch "unwahrscheinlich"

Von Michael Schmölzer

Politik
Ukrainischer Soldat hebt in Region Donezk einen Schützengraben aus.
© reuters

Zusammengewürfelt und geschwächt: Russische Einheiten setzen in der Ostukraine auf einen Abnutzungskrieg.


Moskau hat die erwartete Offensive im Osten der Ukraine gestartet. Das hat jetzt auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow offiziell bestätigt. Er spricht gegenüber dem TV-Sender "India Today" von einer "neuen Phase" und einem "wichtigen Moment in dieser gesamten Spezialoperation". Schon zuvor hatte der ukrainische Generalstab massive russische Angriffe gemeldet, "die Schlacht im Donbass hat begonnen", erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj via Telegram.

Die russische Armeeführung setzt jetzt offensichtlich ganz auf überlegene Feuerkraft, entlang der Frontlinie in der Region Donezk ging nach ukrainischen Angaben ein wahres Granaten-Gewitter nieder. Marinka, Slawjansk und Kramatorsk wurden beschossen, Explosionen gab es in Mykolaiw im Süden und in Saporischschja im Südosten.

Russische "Dampfwalze"

Im Fokus der Angreifer steht Charkiv, die russische Armee will die Großstadt in einem zweiten Anlauf unbedingt erobern. Diesmal soll der Gegner einfach vom Feld gebombt und kapitulationsreif geschossen werden. Das Ziel, das Putin seinen Generälen vorgegeben, hat, ist aber größer dimensioniert: Die gesamten Provinzen Donezk und Luhansk sollen erobert werden. Die ukrainische Armeeführung geht davon aus, dass ein großer Umfassungsangriff geplant ist, der bis zu 40.000 ukrainische Soldaten einkesseln und zur Aufgabe zwingen soll.

Die Angreifer haben die jetzt gestartete Offensive seit Wochen vorbereitet und neue Einheiten aus Russland herangeführt, die durch Bataillone, die vor Kiew gescheitert sind, verstärkt werden. In den ersten Stunden der Offensive ist es der russischen Seite gelungen, die Stadt Kreminna zu erobern und auch an anderen Stellen vorzustoßen. Das US-amerikanische "Institute for the study of war" (ISW) vertritt trotzdem die Ansicht, dass diese Offensive nicht wesentlich erfolgreicher sein dürfte als die vorangegangenen. Es bestehe allerdings die Gefahr, dass die Ukrainer in einem Abnützungskrieg langsam aufgerieben werden und dass die russische Armee so nach und nach Terrain erobert. Die Rede ist von Panzerschlachten, wie sie im Zweiten Weltkrieg üblich waren.

Die Experten des ISW führen an, dass die russischen Kräfte nach ihrem Scheitern vor der ukrainischen Hauptstadt nicht genug Zeit gehabt hätten, sich neu zu formieren und ihre Verluste auszugleichen. Demnach seien die teilweise beträchtlich dezimierten Einheiten nun mit Soldaten anderer Einheiten aufgefüllt worden. Das Resultat seien bunt zusammengewürfelte Kampfgruppen ohne große Kohärenz, die jetzt im Osten in die Schlacht geführt würden.

An der niedrigen Kampfmoral der Russen und der logistischen Probleme hat sich ebenfalls nichts geändert, so das ISW. Hier hat die russische Armeeführung keine Abhilfe gefunden. Es gibt Berichte, wonach hunderte Soldaten desertiert sein sollen. Russlands Präsident Wladimir Putin soll nach ukrainischen Angaben eigene Einheiten zusammengestellt haben, die Jagd auf Deserteure machen. Die russische Propaganda habe zudem verkündet dass denen, die zum Feind überlaufen, in die Beine geschossen werde. Unabhängig überprüft werden können diese Angaben nicht.

Im Zweiten Weltkrieg wurden Soldaten der Roten Armee unmittelbar hinter der Front aufgestellt. Sie hatten den Auftrag, alle Deserteure sofort zu erschießen.

Fest steht, dass diese Methoden - sollten sie tatsächlich angewandt werden - 2022 nicht den gleichen Effekt haben wie ab 1941. Damals waren die Soldaten der Roten Armee bei der Wehrmacht gefürchtet, weil sie scheinbar ohne Rücksicht auf ihr Leben anstürmten. Doch sind die damaligen "Motivationsstrategien" im Jahr 2022 ganz offensichtlich nicht mehr anwendbar.

Generell besteht eine große Diskrepanz zwischen der zahlenmäßigen und der tatsächlichen Stärke der russischen Streitkräfte. Sollten die Angreifer Erfolge erzielen, dann nur unter enormem Materialeinsatz und unter Inkaufnahme großer Verluste. Ein rascher und durchschlagender Erfolg in der Ostukraine ist laut ISW höchst unwahrscheinlich.

Drama in Mariupol

Unterdessen ist Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der nach den letzt militärischen Rückschlägen kaum noch öffentlich zu sehen war, wieder in Erscheinung getreten. "Wir setzen unseren Plan zur Befreiung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk schrittweise um", so Schoigu in einer vom Fernsehen übertragenen Sitzung mit Militärkommandeuren. Der enge Putin-Vertraute warf Washington vor, den Militäreinsatz durch Waffenlieferungen "in die Länge zu ziehen".

Die strategisch wichtige Stadt Mariupol ist unterdessen fast gänzlich in Händen prorussischer Kräfte. Zuletzt verschanzten sich rund 2.500 Verteidiger in den Ruinen des Stahlwerks Asowstal. Dort sollen sich nach ukrainischen Abgaben auch rund 1.000 Zivilisten ausharren, darunter Frauen und Kinder. Moskau stellte den Eingeschlossenen am Dienstag ein Ultimatum. Die Kämpfer hätten ab Mittag die Gelegenheit, die Gefechte einzustellen und ihre Waffen niederzulegen, hieß es aus Moskau. Dann würde ihr Leben verschont. Die Ukrainer bekräftigten allerdings, dass sie sich nicht ergeben, sondern weiter für die Verteidigung der Stadt kämpfen würden.