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Pseudo-Staaten auf Geheiß Moskaus

Von Alexander Dworzak

Politik

Das südukrainische Cherson droht zu einer "Volksrepublik" wie Donezk und Luhansk zu werden.


Am 9. Mai begeht Russland traditionell den "Tag des Sieges", mit dem die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht gefeiert wird. Bis dahin möchte Machthaber Wladimir Putin auf jeden Fall einen bedeutenden Erfolg in der Ukraine vermelden, wird allseits erwartet. Kampfjets wurden bereits gesichtet, wie sie für die Parade in Moskau eine Z-Formation bilden, das Zeichen der russischen Kriegsunterstützer.

Ein Vorbote für diese Feierlichkeiten deutet sich bereits für den Beginn des Monats an. Denn ab 1. Mai soll in der Gegend um die südukrainische Stadt Cherson der russische Rubel als Zahlungsmittel eingeführt werden. Vier Monate würde die ukrainische Hrywnja noch als Parallelwährung gelten, erklärte Kirill Stremoussow gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti. Stremoussow bezeichnet sich als Mitglied von Chersons selbsternannter "militärisch-ziviler Verwaltung".

Cherson ist kein bevölkerungsreiches, aber ein strategisch bedeutendes Territorium. Die Stadt zählte vor Kriegsbeginn im Februar keine 300.000 Einwohner, die gleichnamige Region, Oblast genannt, nur knapp über eine Million. Aber Cherson grenzt an die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim. Die Einnahme Chersons zählte seit Kriegsbeginn zu den prioritären Zielen Russlands, denn es erreicht damit mehrerlei: Die Angreifer schaffen eine Landverbindung zur Krim. Sie sichern sich auch einen wichtigen Baustein bei der durchgängigen Verbindung zu den seit 2014 von Moskaus Gnaden bestehenden "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. Und schneiden die Ukraine von weiteren Teilen des Schwarzen Meeres und Asowschen Meeres ab.

Nicht zufällig ist Cherson die einzige Hauptstadt einer Oblast, die Russland eingenommen hat. Nach wochenlangen Kämpfen wurde am Dienstag die vollständige Einnahme der Region verkündet. Die Ukraine beharrte darauf, dass sich die Verteidigungslinie noch innerhalb der Oblast befinde, aber unstrittig ist fast das gesamte Gebiet in russischer Hand.

"Keine Rückkehr in nazistische Ukraine"

Das hielt Bürger der Stadt Cherson am Mittwoch jedoch nicht davon ab, den neuen Machthabern einen unfreundlichen Empfang zu bereiten - wie bereits andernorts gesehen, wo Russen entgegen ihren Erwartungen nicht als "Befreier" vor dem in Moskauer Diktion "nazistischen ukrainischen Regime" gefeiert wurden. Die Demonstranten wurden mit Tränengas und Blendgranaten vertrieben. "Ich bin allen dankbar, die nicht aufgegeben haben, die protestieren, die die Besatzer ignorieren", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Für die Regierung in Kiew steht fest, dass die Einführung des Rubel nur der erste Schritt zur Russifizierung Chersons ist. Ein Referendum über die Einführung einer "Volksrepublik" werde folgen. Das schließt der Moskau-treue Stremoussow zwar aus - es wäre aber auch nur mithilfe massiver Wahlfälschungen zu gewinnen. Zu groß ist auch in einstmals russophilen Teilen der Ukraine die Wut über den Krieg und das Leid, das Putins Truppen über den Nachbarstaat gebracht haben. Wo Chersons neue Führung ihre Zukunft sieht, macht Stremoussow deutlich: "Die Frage einer Rückkehr in die nazistische Ukraine ist ausgeschlossen."

Wie im Fall der Krim könnte Russland das Territorium annektieren. Dagegen spricht, dass Cherson im Gegensatz zur Halbinsel keinen hohen emotionalen Stellenwert für die Russen besitzt. Realistischer scheint derzeit die Abtrennung von der Ukraine in Form einer "Volksrepublik" - möglicherweise als Zwischenlösung, bis der gesamte Süden und Osten der Ukraine erobert und annektiert wird. Die 2014 geschaffenen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk umfassen nur ein Drittel des Territoriums der beiden gleichnamigen Oblasten. Diese Gebiete will Russland unbedingt vollständig erobern.

Dort ist auch gut ablesbar, welche politische Zukunft Cherson droht: Es sind rechtsfreie Räume, in denen Kriminalität und Gewalt herrschen, Verschleppung und Folter dokumentiert sind. Die politischen Anführer sind lediglich Marionetten Moskaus. Denis Puschilin, einstmals Verkäufer dubioser Finanzprodukte, regiert seit 2018 in Donezk. Sein Vorgänger Alexander Sachartschenko kam bei einem Bombenanschlag ums Leben. Russland schob der Ukraine die Schuld zu, viel spricht aber laut der ARD für eine interne Fehde, denn Sachartschenko gehorchte Moskau nicht bedingungslos. In Luhansk putschte sich Leonid Pasetschnik 2017 an die Macht, früher Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Sowohl Puschilin als auch Pasetschnik sind Mitglieder der Kreml-Partei "Einiges Russland".

Niedergang der Industriehochburgen

Unter ihrer Führung hat sich der Niedergang der einstigen Industriehochburgen im Donezkbecken beschleunigt. Wer kann, sucht sein Glück auswärts. Zwischen 800.000 und einer Million russischer Pässe wurden an Bürger der beiden "Volksrepubliken" ausgestellt. Diese Personen zieht Russland derzeit heran, wenn es sich als Beschützer vor einem vermeintlichen ukrainischen "Genozid" geriert und damit seinen Einmarsch begründet. Nun droht auch den Einwohnern Chersons dieser "Schutz".