Die zwei U-Bahn-Züge in der Station sind bewohnt, wer hier einen Platz ergattert hat, hat zumindest ein wenig Privatsphäre, auf den Bänken liegen Matratzen, auf einem Campingtisch steht eine Lampe. Sofort, als sie die ersten Explosionen hörte, flüchtete Elina in die nahegelegene U-Bahn-Station, hier suchte die Friseurin Schutz vor den Bomben, Raketen und Artilleriegranaten. Denn die Wohnung von Elina und ihrem Mann liegt zwischen potenziellen Zielen, ein Nachbargebäude beherbergt eine Militäreinrichtung, ein anderes ein Feuerwehrzeughaus.
Die Schlacht um Charkiw hatte gleich am schicksalhaften ersten Tag des Angriffskrieges der Armee der Russischen Föderation auf die Ukraine, dem 24. Februar 2022, begonnen, als die Truppen die Grenze vom nahegelegenen Belgorod überschritten. Als die Panzer und Infanterie-Einheiten auf heftigen Widerstand stießen, verlagerten sich die Kämpfe in die nördlichen Vorstädte.
Video-Reportage von Thomas Seifert auf puls24: Hier gehts zum Video.
Charkiw ist eine Industriestadt mit herbem Sowjet-Charme, im Zweiten Weltkrieg wurden von der Wehrmacht Nazideutschlands weite Teile der alten Bausubstanz zerstört, heute dominieren Plattenbauten ganze Stadtviertel. Doch Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und hatte vor Kriegsbeginn um die zwei Millionen Einwohner, die zahlreichen Universitäten machten Charkiw zum zweiten quirligen Zentrum der Jugendkultur neben der Hauptstadt Kiew. Aber Charkiw ist auch der nördliche Schlüssel zum Donbass, dessen Eroberung zumindest das erklärte Hauptziel des Angriffskrieges des Kremls ist, von hier und von Dnipropetrowsk im Süden gelangt man in diese derzeit heiß umkämpfte Region.
"Stadt der Scherben"
Heute ist Charkiw entvölkert, die meisten Bewohner sind Richtung Westen geflüchtet, nach Poltawa, oder gleich weiter nach Polen, nach Deutschland, in die Slowakei oder nach Österreich. Ganze Stadtviertel sind komplett zerstört, die Bewohner nennen die Stadt heute die "Stadt der Scherben" oder die "Stadt der zerbrochenen Fenster".

Maxim und Anasasia haben Anfang Mai geheiratet - unter dem Donner der Granaten, wie Maxim sagt. Wäre es nicht so tragisch, dann wäre es fast romantisch, sagt er.
- © Thomas SeifertElinas Mann stammt aus dem Donbass, genauer aus Luhansk. Seit der Maidan-Revolution im Jahr 2014 steht Luhansk unter der Kontrolle der international nicht anerkannten Volksrepublik Lugansk, einer von Moskau gestützten Separatistenentität. Im Donbass gab es seit 2014 immer wieder Kämpfe zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee, Elinas Mann kennt den Krieg seit dieser Zeit. "Er hat uns beigebracht, wie man den Unterschied zwischen Granaten, die gegen die russischen Truppen abgefeuert werden, und jenen, die hier einschlagen, erkennt."

Julia Kaufmann ist als freiwillige Helferin bei Ärzte ohne Grenzen in den Metrostationen von Kharkiw im Einsatz.
- © Thomas SeifertIn der U-Bahn-Station fühlt Elina sich sicher, hier sei man weit genug unter der Erde, sodass auch schwere Bomben oder Granaten keine Gefahr seien. "Wir haben hier eine echte Gemeinschaft", sagt sie, während sie Suppe ausgibt. In der Not sei man näher zusammengerückt, Menschen aus dem Bezirk, die man vorher nicht gekannt habe, seien zu echten Freunden geworden, erzählt sie. Es fehle an nichts, Freiwillige und Hilfsorganisationen würden die Menschen, die nun in den U-Bahn-Stationen leben, unterstützen.
Julia Kaufmann, 27 Jahre, aus Alberschwende im Bregenzer Wald - unweit von Dornbirn - in Vorarlberg, ist eine dieser Freiwilligen. Sie arbeitet für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) und ist mit dabei, wenn das Ärzteteam die U-Bahn-Stationen besucht, um die Menschen medizinisch zu betreuen. Ukrainische Ärzte und Psychologen sorgen dafür, dass zumindest die Basisversorgung sichergestellt ist, sagt Kaufmann.
Die Vorarlbergerin bewundert das Netzwerk der Unterstützung, das sich in Charkiw gebildet hat. "Innerhalb der Stadt sind bestimmte Gebiete von der Nahrungszufuhr abgeschnitten. Aus diesem Grund haben Freiwillige die Essensauslieferung übernommen. Großküchen bereiten Essen zu, das dann zu diesen Siedlungen gebracht wird. Dieselben Verteilungssysteme nützen wir auch für Ärzte ohne Grenzen, um Medikamentenlieferungen in bestimmte Regionen zu übernehmen", sagt Kaufmann. "Es ist wirklich erstaunlich, wie die ukrainische Bevölkerung zusammenhält und Tag für Tag aufs Neue die Motivation aufbringt, gegen die herrschende Situation anzukämpfen."
Kaufmann erzählt, dass die psychologische Betreuung gerne in Anspruch genommen werde: "Die Menschen leiden unter Angstzuständen. Hier, tief unter der Erde, fühlen sie sich sicher. Es ist wichtig, dass die Menschen ihrer Angst auch Raum geben und darüber sprechen können", sagt Kaufmann.
Ja-Wort im Kanonendonner
Ihre aus Italien stammende Kollegin Ramona ist Psychotherapeutin und arbeitet im Team mit zwei ukrainischen Kollegen: "Extremer Stress und Nervosität ist in einer anomalen Situation wie hier normal." Die Menschen erzählen, dass es zu Beginn sehr schwierig gewesen sei, sich auf die neuen Lebensbedingungen in der U-Bahn-Station einzustellen, aber dann haben sich die Menschen daran gewöhnt, Kontakt zu ihren Nachbarn aufgebaut und nach und nach ein Zusammenleben in der Station organisiert.
In den U-Bahn-Stationen gibt es manches Mal auch etwas zu feiern: Neulich sang die ganze Station "Happy Birthday" für ein junges Mädchen, das ihren Geburtstag feierte. Oder als Maxim, 23 Jahre, am 3. Mai Anastasia heiratete: Eigentlich wollten die beiden einander direkt in der Metrostation das Ja-Wort geben, aber das war nicht möglich, immerhin gab es nach dem Termin am Standesamt eine kleine Feier in der U-Bahn. "Wir haben unter dem Donner des Artilleriebeschusses geheiratet. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre das eine romantische Vorstellung", sagt Maxim.
Das Leben geht eben weiter, wenn auch für Maxim und seine Ehefrau Anastasia seit 7. März unter dem Asphalt von Charkiw. Seit der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Angreifer hat sich die Lage ein wenig beruhigt, sagt Maxim: "Es ist schon ein wenig besser, die Kinder gehen hinaus zum Spielen, aber es ist immer noch gefährlich." Es ist schon seltsam: Bewohnte U-Bahn-Züge, Zelte und Matratzen auf den Metro-Bahnsteigen, junge Hipster, die auf der Tastatur ihrer Laptops tippen, die Plätze beim Eingang, wo es Steckdosen gibt, sind heiß begehrt. Eine ältere Dame sitzt in ihrem Campingsessel und ist ganz in ihr Buch vertieft, während gleich daneben ein junger Mann mit einer Katze spielt.

Elina lebt seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Metrostation.
- © Thomas SeifertEine U-Bahn-Station als Lebensraum. Jewgenij, den alle Zenja nennen, will noch einige Zeit hierbleiben. Er ist 65 Jahre alt, hat graue, glatte Haare, über dem karierten Hemd trägt er eine grüne Fleece-Jacke. Auf die Frage, wie es ihm hier in der Metro-Station gehe, antwortet er mit einer Gegenfrage: "Woher kommst Du?" Zenja ist es gewohnt zu fragen, schließlich war er über 30 Jahre lang Physik- und Mathematik-Lehrer an einem Gymnasium ganz in der Nähe der U-Bahn-Station und wollte von seinen Schülerinnen und Schülern alles über die Thermodynamischen Gesetze und Differenzialgleichungen wissen.
Sein ganzes Leben lang stellte er Fragen. "Aus Wien! Ach, Wien! Ich war im Prater, in Schönbrunn und im Sigmund-Freud-Museum. Großartig, besonders das Freud-Museum. Sachertorte, Wiener Kaffee, es war herrlich. Wien ist eine wunderschöne Stadt." Vor fünf Jahren war er dort, und er erinnert sich immer wieder gerne daran zurück, sagt er.
"Ich liebe meine Stadt"
Auf die Frage, seit wann er in der Metro-Station lebt, erzählt er vom Luftangriff vom 3. März durch ein russisches Flugzeug. Ein Haus in der Nähe wurde getroffen, durch die gewaltige Explosion gingen alle Fenster seiner Wohnung zu Bruch. In der Wohnung wurde es rasch zu kalt, und Jewgenij erschien es sicherer, sich in die Metrostation zu flüchten. Er sieht auch keinen Sinn darin, die Fenster zu reparieren, denn wenn die Kämpfe wieder aufflackern, "dann gehen die Fenster wieder kaputt".
Jewgenij, der sein halbes Leben in der Sowjetunion gelebt hat, kann nicht verstehen, warum Wladimir Putin diesen Krieg führen lässt: "Die Hälfte der Bewohner von Charkiw hat Verwandte oder Freunde in Russland, es gibt in Charkiw keine Nazis." In Charkiw würde vorwiegend Russisch gesprochen und nicht Ukrainisch.

Charkiw an der Oberfläche: eine Metropole mit herbem Sowjet-Charme.
- © Thomas SeifertAuf die Idee, Charkiw zu verlassen, ist Jewgenij auch in der Zeit der härtesten Bombardements nie gekommen: "Ich liebe meine Stadt. Hier bin ich. Hier bleibe ich."
Mitarbeit: Alexander Solodkiy