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Republik für einen Tag

Von Christoph Rella

Politik

Im März 1939 erklärte die Karpatenukraine ihre Unabhängigkeit. Der neue Staat existierte allerdings nur 24 Stunden.


Um 6.15 Uhr peitschten die ersten Schüsse durch die Straßen der Hauptstadt. Verwundert trat Michael Winch ans Fenster und warf sich geistergegenwärtig auf den Boden. In einer Hintergasse, unweit seines Hotelzimmers, stand ein mit einem Revolver bewaffneter Bursche. Plötzlich krachte Gewehrfeuer, unterbrochen vom charakteristischen Tat-Tat-Tat eines Maschinengewehrs. Als schließlich auch noch zwei Panzer auftauchten, war sich der Brite sicher: Die Karpatenukraine, im Deutschen Ruthenien genannt, war Opfer eines Angriffskrieges geworden, und der Aggressor hieß nicht etwa Russland, sondern Ungarn.

Der Reiseschriftsteller ist einer der wenigen westlichen Zeugen, die den Einmarsch der ungarischen Armee an jenem 16. März 1939 miterlebten. Und dabei konnte er noch von Glück reden, mit dem Leben davongekommen zu sein. "Plötzlich hörte ich das Geräusch von zersplitterndem Glas, Kugelhagel prasselte durch das Fenster", erinnerte er sich später. "Wir lagen alle bäuchlings auf dem kalten Zementboden, aber der Portier schob sich nach vorn und zog vorsichtig die Tür auf. Vor der Schwelle lagen zwei reglose Beine." Winch gelang gerade noch die Flucht nach England, seine Eindrücke brachte er kurz darauf in seinem Buch "Republic for a day: An eye-witness account of the Carpatho-Ukraine incident" zu Papier.

Tatsächlich ist die Historie Rutheniens, also des einzigen, freien ukrainischen Staates zwischen 1920 und 1991, eine eher unbekannte. Bis 1919 war der dicht bewaldete Landstreifen südlich des Karpatengebirges, eingezwickt zwischen der heutigen Slowakei und Rumänien, ein Teil des ungarischen Königreichs und damit der k.u.k. Monarchie gewesen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieg wurde der mehrheitlich von Ukrainern, Ungarn, Slowaken, Deutschen und Juden bevölkerte Flecken dem neu gegründeten tschechoslowakischen Staat zugeschlagen. Er bildete, wenn man so will, den "Wurmfortsatz" der Republik im äußersten Osten - und wurde daher auch dementsprechend nachlässig behandelt.

Ruthenien - das hilflose letzte Glied in der Kette

Die zwei Jahrzehnte der Zwischenkriegszeit waren daher auch keine glückliche Zeit für Podkarpatsko, wie die Tschechen das Land nannten. Die Regierung in Prag agierte sehr zögerlich bei der Umsetzung von Maßnahmen, die zu einer größeren Autonomie in Ruthenien führen sollte - wie das ja eigentlich auch von den Pariser Friedensverträgen verlangt wurde. Die rund 814.000 Einwohner, von denen etwa 15 Prozent Juden waren, besaßen den niedrigsten Lebensstandard in der Republik. Die Politik war gekennzeichnet von heftigen Auseinandersetzungen zwischen pro-ungarischen, pro-deutschen und pro-sowjetischen Gruppierungen. Aber irgendwie schafften es die Tschechen, den bunten Haufen zusammenzuhalten.

Seinen Lauf nahm das Unheil erst im September 1938, als im Rahmen der Münchner Konferenz große Teile Böhmens und Mährens - das Sudetenland - dem deutschen Reich zugeschlagen wurden. Von der Weltöffentlichkeit nahezu unbemerkt sicherten sich damals auch Polen und Ungarn Grenzgebiete, etwa Teschen oder die südliche Slowakei. Die Begehrlichkeiten der Ungarn, auf eine Revision der Grenzen von 1919 bedacht, reichten aber weiter. Nur ein Monat nach Inkrafttreten der Münchner Beschlüsse erhielt Budapest von den Außenministern Deutschlands und Italiens im so genannten Ersten Wiener Schiedsspruch die Erlaubnis, auch den karpatenukrainischen Grenzstreifen mit ungarischer Bevölkerungsmehrheit, zu dem auch die beiden größten Städte Uzhgorod und Mukacevo gehörten, zu kassieren.

Die Machtlosigkeit der tschechoslowakischen Regierung löste bei den Ruthenen tiefe Bestürzung aus. Dennoch gewährte Prag der Slowakei und der Karpatenukraine am 22. November 1938 die lang ersehnte Autonomie. Es war der verzweifelte Versuch, den verstümmelten Staat noch zusammenzuhalten. Nachdem die beiden Hauptorte Uzhgorod und Mukacevo im Machtbereich der Ungarn lagen, wurde in der unweit der rumänischen Grenze gelegenen Stadt Chust unter dem Vorsitz des griechisch-katholischen Geistlichen und ehemaligen Mathematikprofessors Avgustyn Voloshyn ein Regionalrat eingerichtet, auch ein eigenes Regionalparlament war geplant. Zudem wurde die nationalistische paramilitärische Miliz Karpatska Sitch (Sitscher Schützen) offiziell anerkannt.

In Wirklichkeit verschärften diese Entscheidungen nur die Spannungen. Insbesondere die Slowaken fühlten sich ungarischen Übergriffen schutzlos ausgeliefert und versuchten, unter dem Schutz Deutschlands die Unabhängigkeit zu erlangen. Die Ruthenen bildeten das hilflose letzte Glied in der Kette. Durch eine Unabhängigkeit der Slowakei wären sie vollständig von Prag abgeschnitten worden. Für einen Anschluss an Polen konnte man sich nicht begeistern, und obwohl es gewisse Sympathien für die theoretische Vorstellung einer Groß-Ukraine gab, hegten die Karpatenukrainer nicht wirklich den Wunsch, sich Stalins blutbesudelter Sowjetunion anzuschließen. Die einzige Überlebenschance bestand also darin, sich selbst für unabhängig zu erklären.

Ein neues Land mit eigener Hauptstadt, Sprache und Fahne

Und so kam es auch. Am Morgen des 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in die Rest-Tschechoslowakei ein, besetzten Prag und erklärten Böhmen und Mähren zum "Reichsprotektorat". Jozef Tiso, der politische Führer der Slowaken, der noch kurz zuvor bei einem Treffen mit Hitler vorgewarnt worden war, verkündete sogleich die Abspaltung des slowakischen Landesteils. Die ruthenischen Politiker, mit denen niemand gesprochen hatte und die völlig isoliert waren, kamen zu dem Schluss, dass ihnen angesichts vollendeter Tatsachen nichts anderes übrig blieb, als dem Beispiel der Slowakei zu folgen.

Noch am selben Tag wurde in der neuen Hauptstadt Chust die Republik der Karpatenukraine ausgerufen und Avgustyn Voloshyn zum Präsidenten und Julian Revay zum Ministerpräsidenten ernannt. Laut Verfassung sollte ein demokratisch gewähltes Parlament die oberste Kontrollinstanz bilden, Amtssprache sollte Ukrainisch sein und die Staatsflagge aus einem gelben und einem blauen waagrechten Balken bestehen. Die Beschlüsse der Regierung traten mit sofortiger Wirkung in Kraft. Der Text der Nationalhymne "Shche ne vmerla Ukraina" ("Noch ist die Ukraine nicht verloren"), der nicht ganz zufällig der polnischen Hymne entlehnt war, hatte wiederum etwas Trotziges und Herausforderndes.

Allerdings zum Feiern war an dem Abend des 15. März, als Voloshyn auf dem Balkon des Regierungsgebäudes in Chust die Unabhängigkeit verkündete, nur wenigen zumute. Laut dem Augenzeugen Michael Winch sollen nur rund 700 Menschen den Weg ins Stadtzentrum gefunden haben. "Niemand demonstrierte, niemand sang, niemand stimmte auch nur patriotische Hochrufe auf die neue Republik an. (. . .) Ständig drängten sich tschechische Soldaten, die sich auf ihren Abtransport vorbereiteten, durch die Menge", schrieb der Brite. "Wir gingen in einer freien Ukraine schlafen." Winch ahnte, dass diese Freiheit nur kurz währen würde. Ohne deutschen Schutz, notierte er, würde der neue Staat nicht lange bestehen. "Abgesehen von der Regierung waren wir anscheinend die einzigen Menschen in der Stadt, die wussten, dass die Ungarn heranmarschierten. Nur, wo waren die deutschen Flugzeuge?"

Sie sollten nicht kommen. Das von Voloshyn zuvor an Hitler gesandte Telegramm mit der Bitte um Beistand wurde nie beantwortet. Sogleich brachen zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen Kämpfe aus. Noch am Abend wurde die Sitch-Miliz in Auseinandersetzungen mit versprengten tschechoslowakischen Armeeeinheiten sowie slowakischen und ungarischen Freischärlern an den Grenzen verwickelt. Die Schießereien hielten die Nacht und den darauffolgenden Tag über an, bis am Nachmittag des 16. März die Nachricht Chust erreichte, dass die ungarische Armee im Süden die Grenze überschritten habe, um die Unruhen zu beenden. Noch bevor die Truppen die Hauptstadt erreichten, riss die mehrheitlich ungarische Bevölkerung die blau-gelben Nationalfahnen von den Häusern und ersetzte sie zu Winchs Erstaunen sofort durch rot-weiß-grüne: "Es waren so viele ungarische Fahnen versteckt worden, wie ukrainische Fahnen in Chust aufgezogen worden waren."

Massaker an den Sitscher Schützen

Noch im Laufe des Nachmittags gab Radio Budapest bekannt, dass Kárpátálya nach zwanzigjähriger Trennung wieder mit dem Mutterland vereinigt worden sei. Hitler hatte die Aktion insgeheim gebilligt, und am Abend war alles vorbei. Die meisten ruthenischen Führer flohen nach Rumänien, einzig die Sitscher Schützen kämpften noch eine Weile in den Bergen weiter. Hunderte Männer wurden sofort getötet, ungefähr 1.000 schafften es nach Bratislava und landeten später in deutschen Internierungslagern. Am 17. März rückten ungarische Soldaten an die Grenze zu Polen vor und brachten damit ihren kurzen Feldzug zum Abschluss. Jene Sitch-Kämpfer, die es nicht mehr nach Polen schafften, wurden am Ufer der Theiss (angeblich) erschossen.

Damit war die Republik der Karpatenukraine nach nur 24 Stunden wieder Geschichte. Ab 1944 sowjetisch besetzt, sollte das Land erst ein halbes Jahrhundert später wieder Teil einer freien Ukraine werden. Seit 2002 wird Voloshyn, der erste und letzte Präsident Rutheniens, in der Ukraine offiziell als "Held" verehrt. Er starb kurz nach Kriegsende in einem Moskauer Gefängnis.