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Visegrad-Bündnis atomisiert sich

Von Martyna Czarnowska

Politik

Immer wieder sorgten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei für Unruhe in der EU - nun ist Budapest dort isoliert.


Ein Pole, ein Ungar - zwei Neffen, beim Schwert und beim Glas: Die Erzählung von der brüderlichen Verbundenheit zwischen zwei Völkern wurde in einen Spruch gegossen, der in Polen wohl bekannter ist als in Ungarn. Er reicht Jahrhunderte zurück, und das besondere Verhältnis schien auch noch bis vor kurzem, in der Europäischen Union, zu gelten. Gemeinsam mit Tschechien und der Slowakei bildeten die beiden anderen jüngeren EU-Mitglieder die sogenannte Visegrad-Gruppe, ein formloses Bündnis, das sich manchmal in der EU für gemeinsame Anliegen - etwa in der Flüchtlingspolitik - einsetzte. Doch Polen und Ungarn erschienen darin dominant: das eine wegen seiner Größe, das andere wegen der Präsenz seines Regierungschefs, Premier Viktor Orban.

Im Justizstreit mit der EU wurden die zwei Staaten ebenso meist in einem Atemzug genannt. Sowohl in Warschau als auch in Budapest sind national- bis rechtskonservative Regierungen an der Macht, denen vorgeworfen wird, sie würden den Rechtsstaat aushöhlen und die Medienfreiheit beschränken wollen. Die EU-Kommission hat in beiden Ländern Prüfverfahren eingeleitet.

Ungarn und Polen entzweit

Doch spätestens mit der russischen Invasion in die Ukraine gingen die politischen Wege Polens und Ungarns auseinander. Schon zuvor waren die Visegrad-Vier eine lose Allianz, die nur bei bestimmten Themen ihre Bande festigte. An der harschen Kritik an Brüssel und Berlin, wie sie immer wieder in Warschau und Budapest zu hören war, beteiligten sich Prag und Bratislava schon seltener. Nicht nur bei ihren Feindbildern unterschieden sich die Länder, sondern auch bei ihren Sympathien. Weder konnten alle etwas mit der USA-Freundlichkeit Polens anfangen, noch konnte Polen die Russland-Freundlichkeit Ungarns akzeptieren.

Diese wurde nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine immer untragbarer für die EU und drängte Budapest dort zunehmend in die Isolation. Vor der Einigung auf das sechste Sanktionspaket gegen Russland äußerte Ungarn am lautesten seine Bedenken. Zwar mag so manch anderer EU-Staat die Einwände gegen ein Ölembargo geteilt haben, auch wenn die Gründe dafür je nach wirtschaftlicher Interessenslage unterschiedlich waren. Dass Budapest dann aber nach der grundsätzlichen Einigung beim EU-Gipfel weitere Hürden aufstellte und die Streichung des russisch-orthodoxen Kirchenoberhaupts, Patriarch Kyrill, von der Sanktionsliste verlangte, stieß schon auf weit weniger Verständnis. Dennoch gaben 26 Länder dem Wunsch eines Mitglieds nach, um den Ölboykott zu retten.

Im Tauziehen um die Strafmaßnahmen zeigten sich die Differenzen zwischen Polen und Ungarn deutlich. Während Warschau schon lange auf harsche Sanktionen drängte, wollte Budapest diese verhindern. Polen und Ungarn entkoppeln zu wollen, könnte auch eine Absicht von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewesen sein. Wegen des Zwists um die Rechtsstaatlichkeit hielt ihre Behörde Milliarden-Euro-schwere Hilfen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds an die zwei Länder zurück. Bis Mittwoch. Da gab die Kommission bekannt, sie hätte sich mit der polnischen Regierung auf einen Plan zur Auszahlung geeinigt.

Allianzen verschieben sich

Diese Entscheidung war nicht unumstritten, da der Streit um die Unabhängigkeit von Richtern noch keineswegs völlig ausgeräumt ist. Daher kamen Vorwürfe aus dem EU-Parlament, dass die Kommission ihr Druckmittel aus der Hand geben würde. Bedenken gab es sogar in der Behörde selbst: Die Kommissare brachten den Entschluss in ihrer wöchentlichen Sitzung zur Debatte, während die Aufbaupläne anderer Länder in einem schriftlichen Verfahren schnell gebilligt wurden. Am Donnerstag erklärte dann von der Leyen, Polen habe noch nicht das Ende des Weges erreicht. Mit den Auszahlungen der Gelder könne erst begonnen werden, wenn die Reform des Justizsystems abgeschlossen sei.

Mit dem Krieg in der Ukraine rückte der Justizzwist in den Hintergrund - und die Gewichte innerhalb der EU verschoben sich. Polen und die baltischen Staaten gewannen an Einfluss: Sie waren es, die jahrelang vor russischer Aggression gewarnt und der Ukraine am raschesten Militärhilfe geleistet haben. Polen hat außerdem Millionen Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet aufgenommen. Überhaupt spielen die ost- und mittelosteuropäischen Länder trotz des Bruchs im Visegrad-Bündnis eine gewichtigere Rolle. Der Besuch der Premierminister Polens, Tschechiens und Sloweniens in Kiew Anfang März sollte so nicht nur ein Signal an die Ukraine sein - sondern auch an die EU selbst.