Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) wurde mitten im Kalten Krieg in den 1980er Jahren in Wien gegründet, um eine Diskussionsplattform zwischen Ost und West zu haben. Misha Glenny, der frischgebackene Rektor, hat das Haus nun zu einer Zeit übernommen, in der ein heißer Krieg über Europa hereingebrochen ist.
"Wiener Zeitung": Seit der Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation ist nichts mehr, wie es davor war. In welchen Zeiten leben wir?
Misha Glenny: Mir geht seit dem 24. Februar ein Satz von Bertolt Brechts Gedicht "An die Nachgeborenen" nicht mehr aus meinem Kopf: "Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!" Ja, wir leben wahrlich in finsteren Zeiten. Wir werden daran erinnert, dass die Zeit des Friedens in Europa eher die Ausnahme ist und nicht die Norm.
Sehen Sie Chancen auf ein Ende der Kampfhandlungen?
Wenn dieser Krieg nicht über die Grenzen von Russland und der Ukraine schwappt, dann werden die Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine irgendwann stoppen. Jeder Krieg endet eines Tages . . .
. . . die Frage ist nur wann . . .
Im Moment glauben beide Seiten, sie können auf dem Schlachtfeld eine militärische Entscheidung herbeiführen.
Welche Rolle spielt der Westen?
Die Unfähigkeit der Europäischen Union, einen stringenten Plan zu Sanktionen über russisches Öl und Gas vorzulegen, und das Zögern bei Waffenlieferungen für die Ukraine könnten durchaus einen demoralisierenden Effekt bei der Führung der Ukraine und der Bevölkerung haben. Gleichzeitig haben wir nicht einmal eine vage Idee davon, was sich innerhalb der Machteliten in Moskau abspielt. Wenn dieser Krieg noch weitere sechs Monate oder länger dauert, dann werden die - vor allem wirtschaftlichen - Auswirkungen auf den Rest der Welt dramatisch sein. Was wiederum Auswirkungen auf die öffentliche Meinung haben wird - und zwar auf globaler Ebene. Preise für Energie, Rohstoffe und Lebensmittel werden weiter steigen. Nach einer von der britischen Tageszeitung "The Guardian" veröffentlichten Umfrage scheint im Ringen um die öffentliche Meinung die Strategie des Kreml erfolgreicher zu sein als jene des Westens. Die Menschen des globalen Südens beginnen, den Westen für die explodierenden Preise verantwortlich zu machen und nicht Russland.

Misha Glenny, Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), in seinem Büro an der Spittelauer Lände in Wien-Alsergrund.
- © Thomas SeifertKann Peking Druck auf Moskau ausüben?
Unternehmen wir ein Gedankenexperiment: Als Wladimir Putin den chinesischen Präsidenten Xi Jinping bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking einen Besuch abstattete, hat Putin ihm wohl gesagt, dass die Sache in der Ukraine nicht viel länger als drei Tage dauern wird. Kiew würde rasch fallen, Russland die Kontrolle in der Ukraine übernehmen und der Westen würde darauf nicht weiter reagieren. Die üblichen diplomatischen Floskeln, ein paar Sanktionen - ein paar Tage Aufregung und dann geht alles weiter wie bisher. Und was könnte Xi Jinping geantwortet haben? Vielleicht etwas wie: "Okay, aber achte bitte darauf, dass sich die ganze Operation nicht in die Länge zieht." Doch genau das ist passiert, statt einem kurzen Blitzkrieg erleben wir nun einen Abnutzungskrieg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Xi Jinping darüber glücklich ist.
Wie kommen Sie zu diesem Befund?
Beim Treffen zwischen Xi und Putin Anfang Februar 2022 sagte Xi, dass die chinesisch-russische Freundschaft "grenzenlos" sei. Aber es ist glasklar, wer in dieser Freundschaft der größere und wer der kleinere Bruder ist. China ist eine rasant aufstrebende Weltmacht. Und Russland? Wladimir Putin ist ein Symbol für den Niedergang des russischen Imperiums. In dieser Phase des Niedergangs sieht Putin sich offenbar gezwungen, wild um sich zu schlagen.
Könnte China nicht davon profitieren, dass Russland die Pipelinerouten in Richtung Osten ausbaut?
So mir nichts, dir nichts die Exportrouten für Öl und Gas von Richtung Westen nach Richtung Osten zu verlagern, ist zumindest kurzfristig völlig unrealistisch.
Wie verändert dieser Krieg die Ukraine selbst - eine Nation, die immer wieder als Staat beschrieben worden ist, der zwischen einem prowestlichen Westteil und einem eher prorussischen Ostteil zerrissen ist?
Heute stimmt dieser Befund sicher nicht mehr. Denn man darf nicht vergessen, dass es viele russischsprachige Ukrainer sind, die durch die Artilleriegranaten und Bomben Russlands sterben oder schwer verletzt werden. Es hat sich gezeigt, dass die russischsprachigen Teile im Osten der Ukraine sehr loyal zu ihrem Land stehen und die Menschen dort bereit sind, einen enormen Blutzoll zu entrichten und immens hohe materielle Schäden in Kauf zu nehmen. Man gewinnt den Eindruck, dass die unterschiedlichen Teile der Ukraine in diesem Krieg enger zusammenrücken, und das Land macht einen sehr geeinten Eindruck.
Neben dem Krieg der Bomben und Granaten tobt auch ein Informationskrieg. Wie sehen sie den Kriegsverlauf auf der digitalen Front?
Wir sehen das Ukraine-Thema durch unsere westliche Brille: Ich möchte nicht in whataboutism verfallen, darf aber trotzdem daran erinnern, dass auch die USA immer wieder in Länder einmarschiert sind und sich dabei auf höchst zweifelhafte Informationen gestützt haben. Der Westen hätte es heute im Wettstreit der Argumente wesentlich einfacher, wenn George W. Bush nicht den Irak attackiert hätte. Doch zurück zu Wladimir Putin: Versucht der Kreml, den kommunikativen Erfolgen Kiews im Westen etwas entgegenzusetzen? Nein.
Warum nicht?

Misha Glenny ist Shalini Randeria auf den Chefsessel am IWM nachgefolgt.
- © Thomas SeifertMoskaus Bemühungen fokussieren auf den globalen Süden. Moskau versucht seine Propaganda in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas oder auch in Indien zu verbreiten. Die Botschaft: Die Amerikaner sind an allem schuld. Sie verkaufen Waffen an die Ukraine, die Nato-Osterweiterung hat die Sicherheit Russlands bedroht, und so weiter und so fort.
Die Fähigkeit und der Wille zur Selbstkritik und Reflexion ist etwas, was den Westen von Putins Russland unterscheidet. Wo hat der Westen im Umgang mit Russland Fehler gemacht?
Da würde ich bis in die frühen Neunzigerjahre zurückblenden. Beim Übergang des ehemaligen Ostblocks von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft hat man dem Osten einfach gesagt: "Macht, was ihr wollt." Russland wurde zu einem Land des Gangster-Kapitalismus. Der Westen hat einfach zugesehen, wie der Rubel kollabiert und wie das Land ins völlige wirtschaftliche Chaos gestürzt ist. Damals hätte man Russland dabei helfen müssen, funktionierende Institutionen aufzubauen - das Land stützte sich auf Gangster, Oligarchen und Agenten des KGB. Bei den Visegrad-Staaten hat sich die Europäische Union engagiert, dort lief es besser - daran erkenne ich, dass man diesen Weg gehen hätte müssen.
Nach dem Ende der Systemkonkurrenz hat man im Westen zugesehen, wie der Finanzkapitalismus und der Neoliberalismus völlig aus dem Ruder gelaufen sind und die untere Mittelschicht und die Unterschicht den Anschluss verloren haben. Die Finanzkrise von 2008 hat diese Probleme offengelegt und gleichzeitig verschärft.
Es ist schon interessant: Alles kulminierte während der Präsidentschaft von George W. Bush. Diese Administration war ein echtes Desaster: Nach dem 11. September 2001 war Putin durchaus hilfsbereit, er unterstützte die Vereinigten Staaten mit der Öffnung von Militärbasen in Zentralasien für Soldaten der US-Armee. Doch die USA haben Putin danach einfach ignoriert und Moskaus Vorbehalte gegen den Krieg im Irak überhaupt nicht ernst genommen. Der Irakkrieg war ein gewaltiger Fehler, der Nato-Gipfel im Jahr 2008 in Bukarest nicht gut vorbereitet. Auch die Stationierung der Raketenabwehrwaffen in Rumänien und Polen war nicht besonders sensibel.
Wie schätzen Sie Putins Einfluss im Westen ein?
Der Kreml verstand es, die Schwächen des westlichen politischen Systems auszunutzen. Beispiel Brexit: Natürlich ist Boris Johnson für den Brexit verantwortlich. Oder die Medienzaren Jonathan Harmsworth, der das Blatt "Daily Mail" besitzt, Rupert Murdoch mit seiner Boulevardzeitung "Sun" und die Barclay-Brüder, die den "Daily Telegraph" kontrollieren. Diese Leute haben den Boden für den Brexit aufbereitet. Putin musste dem finsteren Treiben nur zusehen. Der Brexit war ein Riesen-Triumph für Putin. Denn damit zerbrach die Achse zwischen der EU und dem sogenannten Five-Eyes-Geheimdienst-Netzwerk der anglophonen Länder. Das größte Geschenk für Putin war aber natürlich Donald Trump. Putins Informations-Krieger brauchten nur Facebook-Nachrichten zu schicken, die Amerikaner erledigen dann selbst den harten Job des sich gegenseitig Zerreißens. Wer braucht schon Feinde wie Putin, wenn man sich selbst der größte Feind ist.