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Ein historischer Richterspruch

Von WZ-Korrespondentin Birigit Holzer

Politik
"Die Justiz hat etwas repariert, das niemals hätte passieren dürfen", meinte Arthur Denouveaux, der Präsident der Opfer- und Hinterbliebenen-Vereinigung "Life for Paris".
© reuters / Tessier

Am Ende des Terrorprozesses um die Pariser Attentate vom 13. November 2015 lobten auch die Hinterbliebenen das Urteil.


Die Gedenktafel für die 131 Opfer der Pariser Terroranschläge vom 13. November 2015 ist unscheinbar. Sie befindet sich schräg gegenüber der Konzerthalle Bataclan und trägt die Namen der 90 Menschen, die an jenem Abend dort getötet wurden. An diesem Donnerstag umgeben sie nicht nur Blumen, Fotos und Kerzen. Jemand hat davor auch ein Herz aus Steinen geformt, wie um zu sagen: Wir vergessen euch nicht, auch wenn ein wichtiges Kapitel zu Ende gegangen ist. Am Vorabend fällte ein extra dafür zusammengestelltes Spezialgericht seine Urteile im Prozess um die Attentate, die neben dem Bataclan auch das Fußballstadion Stade de France in Saint-Denis nördlich von Paris sowie mehrere Restaurants und Bars in der französischen Hauptstadt trafen. Urteile, die für die Hauptangeklagten hart ausfielen.

Lebenslang in Haft

Salah Abdeslam, der einzige Überlebende des zehnköpfigen Mordkommandos, dem auch sein älterer Bruder Brahim angehörte, muss lebenslang ins Gefängnis, ohne Möglichkeit der Haftverkürzung. Diese Höchststrafe wurde seit ihrer Einführung in Frankreich 1994 erst viermal ausgesprochen und noch nie in Verbindung mit Terrorismus.

Abdeslam hatte sich verteidigt, dass er persönlich niemanden getötet habe. Sein Sprengstoffgürtel wurde später in einem Mülleimer gefunden. Dieser war allerdings defekt - dass er "aus Menschlichkeit" von einem Attentat absah, glaubte ihm das Gericht nicht. Reglos nahm der 32-jährige, in Belgien aufgewachsene Franko-Marokkaner das Urteil entgegen. Wie seine Mitangeklagten hat er zehn Tage Zeit, um in Berufung zu gehen. "Wir werden darüber sprechen", sagte seine Anwältin Olivia Ronen am nächsten Morgen im Radio. Da die eigentlichen Täter tot seien, habe das Gericht "jemand anderen gebraucht, um ihn zu bestrafen", klagte sie.

Lebenslange Haftstrafen erhielten auch Abdeslams Kindheitsfreund Mohamed Abrini, der ebenfalls am 13. November 2015 zum Selbstmordattentäter hätte werden sollen, aber noch in der Nacht davor von Paris nach Brüssel zurückfuhr, sowie fünf Mitglieder der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), gegen die in Abwesenheit verhandelt wurde. Sie sind mutmaßlich in Syrien ums Leben gekommen. Weitere Mitglieder der Terrorzelle müssen viele Jahre ins Gefängnis, während das Strafmaß für jene Männer, die den Attentätern logistische Hilfe geleistet, sie mit Waffen oder falschen Pässen beliefert haben, oft unter den Forderungen der Staatsanwälte lag.

Die Opfer-Anwältin Sylvie Topaloff lobte die Entscheidung als "sehr hart hinsichtlich der Prinzipien und gleichzeitig differenziert bei der Berücksichtigung des Beteiligungsgrades jedes Einzelnen". Das Gericht sprach nur einen der 20 Angeklagten nicht in allen Anklagepunkten schuldig: Der Belgier Farid Kharkhach, der Pässe für die Terrorgruppe gefälscht hatte, mit der er nicht weiter in Verbindung stand, erhielt eine zweijährige Haftstrafe. Wie mehrere weitere Angeklagte konnte er bei der Urteilsverkündung seine Emotionen aus Erleichterung kaum zurückhalten.

"Vor einem Moment habe ich besonders Angst: Wenn ich all das meinen Kindern erklären muss", hatte Ali Oulkadi zuvor gesagt. Er hatte seinen früheren Kumpel Abdeslam in Brüssel von einem Versteck in anderes Versteck gebracht - ihm zufolge ohne Kenntnis von dessen Beteiligung an den Attentaten. "Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mir das vorwerfe: Ich habe einen Typen transportiert, der bei einem Massaker an 131 Menschen mitgemacht hat", sagte Oulkadi.

Er gehörte zu den drei Angeklagten, die sich während der Verhandlungen nicht in Haft, sondern in Freiheit befanden. Zwischen ihnen und einigen der Nebenkläger - Überlebenden der Anschläge oder Hinterbliebenen der Todesopfer - entstanden mit der Zeit sogar freundschaftliche Bande.

Denn der Prozess war von ungewöhnlicher Intensität. Er dauerte fast zehn Monate, fand unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in einem extra gebauten Saal im Pariser Justizpalast statt und räumte den Opfern und Familien viel Raum ein. 415 Nebenkläger traten auf, um den Abend der Attentate oder die Folgen für ihr Leben zu beschreiben - den Verlust ihrer Liebsten, die Depressionen oder Verletzungen, körperlich wie seelisch. Manche von ihnen kamen an jedem der 148 Verhandlungstage und bildeten, wie sie sagten, eine Schicksalsgemeinschaft. "Wir wurden alle an derselben Flamme verbrannt", so drückte es die 45-jährige Aurelie Silvestre aus, die schwanger mit ihrem zweiten Kind war, als ihr Partner Matthieu im Bataclan ermordet wurde.

Betroffene zufrieden

Die meisten Betroffenen äußerten Zufriedenheit über das Urteil, das ihnen ermögliche, mit dem Horror des 13. November 2015 abzuschließen - ohne ihn je zu vergessen. "Die Justiz hat etwas repariert, das niemals hätte passieren dürfen", sagte Arthur Denouveaux, Präsident der Opfer- und Hinterbliebenen-Vereinigung "Life for Paris" ("Leben für Paris"), der damals körperlich unversehrt aus der Konzerthalle entkommen konnte. Der Verein werde vor seiner Auflösung mehrere Feiern organisieren, "um den Schock abzufedern". Aber man wolle sich vom Etikett "Opfer" lösen in dieser neuen Etappe, die am Tag nach dem Urteil begonnen hat.