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Kuschelkurs statt Konfrontation? No, thanks

Politik

Zwischen Großbritannien und der EU wurde viel Porzellan zerschlagen. Rasche Besserung ist nicht in Sicht.


Zumindest ein europäischer Politiker könnte Boris Johnson vermissen. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vom US-Sender CNN zum angekündigten Rückzug des britischen Premiers befragt wurde, antwortete er, dass Johnson "ein echter Freund" seiner Landes gewesen sei. Unter dessen Führung sei Großbritannien auf der richtigen Seite gestanden - an der Seite der von Russland angegriffenen Ukraine. Tatsächlich hatte London Kiew von Anfang an mit massiven Waffenlieferungen unterstützt. Selenskyj äußerte denn auch die Erwartung, dass dieser Aspekt der britischen Außenpolitik unverändert bleibe.

In Brüssel hingegen werden sehr wohl Hoffnungen auf eine Richtungsänderung in einem anderen Bereich gehegt. Sie sind freilich sehr gedämpft. Denn dass London in den Brexit-Turbulenzen künftig auf Kuschelkurs statt Konfrontation setzt, glauben nur wenige.

Einerseits frohlockten Sozialdemokraten und Grüne im EU-Parlament schon, dass sich nach dem Rückzug Johnsons die Chance auf eine Neuregelung des angespannten Verhältnisses zwischen Großbritannien und der EU ergebe, wobei der künftige Premier aus den Fehlern seines Vorgängers lernen sollte. Der frühere Brexit-Chefverhandler der EU, Michel Barnier, äußerte sich ähnlich. In den Beziehungen könnte "eine neue Seite" aufgeschlagen werden, die sich hoffentlich konstruktiver und respektvoller darstellen werde, schrieb er per Kurznachrichtendienst Twitter.

Zank um Nordirland-Protokoll

Auf der anderen Seite ist aber wohl selbst den größten Optimisten bewusst, dass eine völlige Neuausrichtung der Brexit-Politik kaum in Frage kommt - und das gleich aus mehreren Gründen. Innenpolitisch müsste sich ein EU-freundlicherer konservativer Partei- und Regierungschef einem mächtigen Block der Brexit-Fans unter den Tories entgegenstemmen. Diese innerparteiliche Opposition könnte wohl auch Ben Wallace nicht überwinden, der als einer der Favoriten für die Nachfolge Johnsons gilt und der sich vor dem Brexit-Referendum für einen Verbleib des Königreichs in der EU ausgesprochen hatte. Und in der Bevölkerung wird zwar der EU-Austritt laut Umfragen öfter als Fehler denn als richtige Entscheidung bezeichnet, doch zeichnet sich keine Mehrheit für einen Wiedereintritt in die Union ab. Diesen strebt mittlerweile nicht einmal die oppositionelle Labour-Partei an.

Hinzu kommt, dass im Verhältnis zwischen der Insel und dem Kontinent so viel Porzellan zerschlagen wurde, dass eine rasche Besserung der Beziehungen nicht in Sicht ist. Erst in der Vorwoche hat das Parlament in London Änderungen zum sogenannten Nordirland-Protokoll eingeleitet, was in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten für harsche Kritik sorgte. Es gebe "keine gesetzliche oder politische Rechtfertigung" für das Vorgehen Großbritanniens, befand EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic. Auch Irland und Deutschland orten einen klaren Verstoß gegen internationale Vereinbarungen.

Brexit und kein Ende

Die britische Regierung hatte das Nordirland-Protokoll selbst im Rahmen des EU-Austritts ausgehandelt, die Vereinbarung später allerdings für nicht praktikabel erklärt. Das Abkommen sieht für Nordirland besondere Zollregeln vor, um die aus historischen Gründen sensible Grenze zwischen der britischen Provinz und dem EU-Staat Irland offen zu halten - nicht zuletzt, um ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts zu verhindern. Durch die Übereinkunft ist aber eine Zollgrenze in der Irischen See entstanden, die Nordirland vom Rest des Königreichs trennt. Das führte zu Lieferproblemen und großem Unmut in Großbritannien.

Premier Johnson war stark getrieben von seinem Anspruch, zu beweisen, dass er allen Widersprüchen zum Trotz den Brexit vollziehe. Der nächste Premier steht vielleicht nicht so sehr unter diesem Druck, wird er doch auch mit anderen Herausforderungen zu kämpfen haben. Dazu gehören die sich verschlechternde Wirtschaftslage im Königreich, dessen bröckelnde Einheit, soziale Unzufriedenheit, politische Querelen. Wie viel Energie der künftige britische Regierungschef da in die Entkrampfung des Verhältnisses seines Landes zur EU investiert, bleibt offen. (czar)