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Warum Nehammer Orban braucht

Von Alexander Dworzak

Politik

Die Zahl illegaler Grenzübertritte steigt. Für ihre strikte Migrationspolitik benötigt die ÖVP die Unterstützung Ungarns.


Als die Volkspartei noch mit der FPÖ koalierte, sahen die Freiheitlichen die Chance gekommen: Österreich solle sich dem Visegrad-Bündnis anschließen. Angetrieben von Ungarns Premier Viktor Orban, traten seine Regierung und die Kollegen in Polen, Tschechien und der Slowakei infolge der Migrationskrise 2015 dafür ein, die Zuwanderung von Muslimen zu verhindern - verbunden mit verbalen Brachialakten. Die Idee einer Visegrad-Fünf kam für die Kanzlerpartei ÖVP aber nicht infrage. Restriktiv in der Sache sein, aber ohne rabiaten Ton, lautete die Linie von Sebastian Kurz. Eine eindeutige Positionierung hätte sich auch schlecht mit dem Selbstbild als "Brückenbauer" vertragen.

Die Tafeln der "Neuen Volkspartei" wurden nach dem Abgang von Kurz und mehreren Mitstreitern demontiert. Geblieben sind die Farbe Türkis im neuen Parteilogo und eine strikte Migrationspolitik als Kernthema. Die ÖVP hält Kurz’ Erbe hoch, wonach die über Länder des Balkans und Ungarn führende Route für Asylwerber geschlossen wurde. Ganz dicht war diese nie, und die Zahlen steigen rapide: Seit Jahresbeginn wurden fast 23.000 illegale Übertritte von Ungarn nach Österreich gezählt, das sind laut Innenministerium mehr als viermal so viele wie im Vorjahreszeitraum.

"Verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit beider Länder im Kampf gegen die illegale Migration" ist laut Bundeskanzleramt eines der zentralen Themen beim Treffen von Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) mit Orban am Donnerstag. Der Besuch von Außenminister Peter Szijjarto bei seinem Amtskollegen Alexander Schallenberg kündigte bereits die Stoßrichtung an: Szijjarto beklagte "massiven Druck illegaler Migration". Ungarns Regierung erklärte auch, den 2015 errichteten Stacheldraht-Zaun an der Grenze zu Serbien um einen Meter zu erhöhen. Zudem soll ein neuer Zaun im Donau-Drau-Nationalpark im Dreiländereck Ungarns mit Kroatien und Serbien errichtet werden. Und die seit 2016 bestehenden "Grenzjäger" zur Zurückschiebung von Asylwerbern sollen um 2.000 Personen aufgestockt werden.

Je erfolgreicher Orban mit seinen Maßnahmen ist, desto weniger innenpolitische Probleme kommen auf Nehammer zu. Die FPÖ wartet nur darauf, dass Anhänger, die wegen Kurz ins türkise Lager gewechselt sind, wieder zu den Freiheitlichen zurückkehren, dem selbsterklärten "Original" strikter Migrationspolitik.

An einem guten Verhältnis mit der Regierung in Budapest ist traditionell auch Nachbar Burgenland interessiert. Das betrifft nicht nur die Grenzfrage und Asylwerber. Der Wasserstand des Neusiedler Sees ist so niedrig wie zuletzt 1965. Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) bemüht sich um die Verlängerung eines Bewässerungskanals aus einem ungarischen Donauarm bis in den Seewinkel.

Ungarns Premier profitiert von der Visite, weil die Einladungen in westliche Staatskanzleien rar geworden sind. Im Osten wird das ohnehin immer nur punktuelle Visegrad-Bündnis immer loser. Polen und Tschechien zählen beim Krieg in der Ukraine zu den wichtigsten Verbündeten des angegriffenen Landes. Orban pflegt seit Jahren ein Bündnis mit Aggressor Russland.

Provokationen sollen Probleme überdecken

Auch der bisher letzte Wien-Besuch des Premiers liegt bereits mehr als vier Jahre zurück. Das Verhältnis kühlte spätestens 2020 ab: Unter Türkis-Grün stimmte sich Österreich bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der Union und dem Corona-Wiederaufbaufonds mit anderen EU-Nettozahlern ähnlicher Bevölkerungsstärke ab - unter ihnen Schweden und die Niederlande. Dort wird Rechtsstaatlichkeit großgeschrieben. Österreichs Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP), die zuvor stets erklärt hatte, sie übe Kritik an der ungarischen Regierung im bilateralen Gespräch, sagte plötzlich öffentlich: "Rechtsstaatlichkeit ist unverhandelbar."

Das sieht auch EU-Kommissarin Vera Jourova so. Die Brüsseler Behörde hält Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds für Ungarn zurück, Jourova mahnte strikteres Vorgehen bei hochrangigen Fällen von Korruption ein. Im EU-Parlament ist die Stimmung noch stärker gegen Orban, dessen Fidesz lange Zeit unter dem Schutz der Europäischen Volkspartei stand. Noch nie seit Orbans Amtsantritt 2010 ist der Widerstand so groß gewesen. Bisher erhalten Günstlinge Aufträge aus EU-Geldern, während die Regierung gegen "Brüssel" hetzt.

Seine fulminanten vier Wahlsiege erreichte Orban stets auch mit dem Versprechen, der Bevölkerung werde es unter ihm wirtschaftlich besser gehen als unter den Sozialisten. Vor der Wahl im April wurden Höchstpreise für Nahrungsmittel wie Milch und Hühnerfleisch sowie Benzin und Diesel festgelegt. Doch ohne EU-Geld gerät Orbans Alimentierungsmaschine ins Stocken. Die seit 2012 gedeckelten Preise für Gas und Strom können nicht mehr gehalten werden. Eine Pauschalbesteuerung für Einzelunternehmer wird novelliert, hunderttausende Personen könnten Begünstigungen verlieren. Elf Prozent Inflation erwarten die Ökonomen des wiiw im Durchschnitt für heuer. Und die Währung verliert an Wert: Für einen Euro erhält man 400 Forint. Zu Orbans Amtsantritt waren es 265.

Hauptgründe für die Probleme seien laut Außenminister Szijjarto der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland - die Ungarn selbst mitbeschlossen hat. Orban hat sich bei Öl- und Gaslieferungen an Russland gekettet, und das umstrittene AKW Paks II soll mithilfe eines Kredits aus Moskau erbaut werden.

Der Premier versucht, die innen- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten zu überspielen, indem er in bewährter Manier wohlkalkuliert provoziert. Bei einer Rede am Wochenende sah er die "westliche Zivilisation im Niedergang", ortete den Verlust christlich-nationaler Wurzeln durch Migration und "Gender-Wahnsinn" sowie eine "gemischtrassige Welt" im Westen. Zu Debatten über das Einsparen von Gas witzelte Orban von "deutschem Know-how von früher", spielte damit auf die NS-Zeit an. Das rief das Auschwitz-Komitee auf den Plan. Die Vertreter der Holocaust-Überlebenden fordern von Nehammer, Orban am Donnerstag auf seine Äußerungen anzusprechen.