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Ukraine geht an Schlüsselstellen in die Offensive

Von Michael Schmölzer

Politik
Ein ukrainischer Soldat sucht bei Mykolaiv die Front nach Stellungen des Feindes ab.
© reuters / Anna Kudriavtseva

Weitereichende Raketen als neuer Trumpf. Angriff auf die Krim ist deutliche Blamage für Russland.


Der 170. Tag des erbittert geführten Krieges zwischen Russland und der Ukraine ist vergangen und manches deutet darauf hin, dass etwas in Bewegung gerät. Nach einem zermürbenden Stellungskrieg sehen Militärexperten eine ukrainische Gegenoffensive im Süden des Landes im Anmarsch, die für den russischen Angreifer höchst unangenehme Folgen haben könnte. Das US-Institute for the Study of War (ISW), das gewöhnlich über zuverlässige Informationen verfügt, berichtet, dass die russische Seite auch von einem derartigen ukrainischen Angriff ausgeht und begonnen hat, die Befehlsstände im Hinterland zu verlegen.

Große Auswirkungen auf das künftige Geschehen hat der Umstand, dass die ukrainische Armee nun offenbar in der Lage ist, auch 200 Kilometer weit entfernte Ziele genau zu treffen. Kiew ist es am Dienstag offensichtlich gelungen, den russischen Stützpunkt Saki an der Südwestküste der Krim mit Raketen anzugreifen und dort für erhebliche Schäden - unter anderem wurden acht Kampfflugzeuge komplett vernichtet - zu sorgen. Satellitenbilder weisen deutlich darauf hin, dass die Zerstörungen von ukrainischem Beschuss stammen und nicht, wie von Russland behauptet, Folge menschlichen Versagens sind. Die identischen Einschlagskrater und gleichzeitigen Explosionen zeigen auf, dass der Stützpunkt von einer Waffensalve getroffen wurde, die den russischen Verteidigungsanlagen entgehen konnte. Saki liegt weit außerhalb der Reichweite der modernen westlichen Raketen, über die die Ukraine bis dato verfügte.

In Moskau macht sich stellenweise Nervosität breit. Der Gegner ist offenbar in der Lage, Gebiete wie die Krim, die Russland als sein Territorium betrachtet, nach Belieben anzugreifen, ohne dass die russische Abwehr - zumindest vorläufig - etwas dagegen unternehmen kann. Und Russland weiß nicht, über wie viele derartig weitreichende Raketen die Ukraine verfügt.

Russische Flotte in Gefahr

Der deutsche Militärexperte Carlo Masala zeigte sich gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" überzeugt, dass der Krieg nun in eine neue Phase eingetreten ist. Die Ukraine plane, den Russen die von ihnen besetzten Gebiete wieder zu entreißen. Er glaubt, dass an dem Angriff auf den Stützpunkt auf der Krim ukrainische Spezialkräfte an Ort und Stelle und weitreichende Raketen beteiligt waren. Masala sieht auch die russische Schwarzmeerflotte durch die Ukrainer bedroht, da die Schiffe ebenfalls von der Luftabwehr auf der Krim geschützt werden sollten.

Es sieht so aus, als ob die Ukrainer jetzt immer öfter die Gelegenheit bekommen, an strategischen Schlüsselstellen in die Offensive zu gehen und Erfolge einzufahren. Zumal die russische Seite erschöpft und von den personellen und materiellen Ressourcen her nicht in er Lage ist, die Ukrainer entscheidend zu schlagen. Immerhin wurde Russland jetzt auf der Krim - einem Territorium, das man in Moskau als sein ureigenstes betrachtet - angegriffen. Von der angedrohten massiven Vergeltung war vorerst zumindest nichts zu bemerken. Bevor die Kriegsmaschinerie beider Seiten im Oktober im Schlamm stecken bleibt, könnte noch einiges in Bewegung geraten.