Zum Hauptinhalt springen

Im Eiltempo an den Bettelstab

Von Michael Schmölzer

Politik
Ein Gehalt reicht oft nicht mehr, um ein Auskommen zu finden. Inflation und Energiepreise sorgen für Armut. Die Gewerkschaften blasen zum Protest, in Schottland streikt die Müllabfuhr. reu / Cheyne
© reu / Cheyne

In Großbritannien nimmt die Armut rasch zu, Johnsons Nachfolger versprechen Entlastungen. Doch es gibt Zweifel.


Großbritanniens Premier Boris Johnson nimmt endgültig den Hut und tritt ab. Das Rennen um seine Nachfolge ist seit Freitag beendet, wer in Downing Street 10 einzieht, wird am Montag bekannt gemacht. Zuletzt lieferten sich die derzeitige Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak ein Duell um die Macht. Wobei Truss klare Favoritin ist. Ihr Versprechen, trotz der hohen Inflation die Steuern zu senken und eine unternehmensfreundliche Politik zu machen, treffen den Nerv der konservativen Basis - jener rund 170.000 Parteimitglieder, die bestimmen, wer künftig Großbritanniens Geschicke lenkt.

Die große Frage ist, was der - oder eher die neue Premierministerin angesichts der drängenden Probleme unternehmen wird. Die britische Wirtschaft leidet unter den Folgen des Brexit, die Rekord-Inflation und enorm ansteigende Energie- und Lebensmittelpreise sorgen dafür, dass zahllose Briten nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.

Immer mehr Briten müssen sich verschulden

Eine neue Studie der Denkfabrik Resolution Foundation (RF) warnt davor, dass sich die Armut in Großbritannien drastisch verschärft. Sollte die künftige Regierung die bisherige Politik fortsetzen, werde die Zahl der Menschen in absoluter Armut bis zum Haushaltsjahr 2023/24 um drei auf 14 Millionen Menschen steigen, so RF. Damit wäre fast jeder fünfte Brite betroffen. Und die Studie wartet mit weiteren Hiobsbotschaften auf: So soll den Berechnungen zufolge die Kinderarmut bis zu den Jahren 2026/27 auf 33 Prozent klettern.

Verantwortlich dafür ist in erster Linie ein rasanter Fall der Reallöhne. Bis Mitte 2023 soll demnach das gesamte Reallohnwachstum seit 20 Jahren zunichtegemacht werden.

Damit geht es längst nicht mehr um bloße Wohlstandsverluste, wie sie überall in Europa als Folge des Ukraine-Krieges auftreten. Immer öfter müssen britische Familien ihre Lebensmittel-Einkäufe drastisch reduzieren, vielen bleibt nur noch eine Mahlzeit am Tag. Eltern hungern, damit wenigstens ihre Kinder genug zu Essen haben. Tafeln, sogenannte "Food Banks", die Essen kostenlos abgeben, werden nicht mehr nur von Sozialhilfe-Empfängern und mittellosen Pensionisten in Anspruch genommen, sondern von Menschen mit ganz normalen Jobs. Andere, die mit ihrem geringen Gehalt nicht auskommen, versuchen, sich mit schlecht bezahlten Nebenbeschäftigungen über Wasser zu halten. Ältere Menschen, die eigentlich schon in Pension waren, kehren aus Not wieder ins Arbeitsleben zurück.

Für viele Kinder, die jetzt in die Schulen zurückkehren, ist das dort bereitgestellte Essen die einzige gesunde Mahlzeit des Tages. Allerdings müssen die Schulküchen angesichts der rasant steigenden Preise für Lebensmittel sparen. Die Polizei verzeichnet in den vergangenen Monaten einen Anstieg der Ladendiebstähle, entwendet wird Nahrung. Die Polizei versucht, sich auf die neuen Fälle von Mundraub einzustellen und möglichst moderat zu reagieren.

Die Aussichten für den kommenden Winter sind mehr als düster. Verbraucher in Großbritannien müssen sich auf einen weiteren Preissprung für Gas und Strom einstellen, es wird damit gerechnet, dass die Energierechnungen auf bis zu 500 Pfund (578 Euro) im Monat hinaufschnellen werden. Laut Studie sind immer mehr Briten gezwungen, Schulden zu machen. Fachleute der US-Investmentbank Goldman Sachs warnten für den Fall andauernd hoher Gaspreise vor einer Inflation von mehr als 22 Prozent im Jahr 2023, wie die "Financial Times" zuletzt berichtete. Selbst in weniger drastischen Szenarien rechnet Goldman Sachs damit, dass die Inflation ihren Höhepunkt 2023 bei etwa 15 Prozent erreichen könnte. Andere Ökonomen sehen eine Inflation von 18 Prozent auf die Briten zukommen.

Aussichten, die nicht optimistisch stimmen.

Die britischen Gewerkschaften wollen dem nicht tatenlos zusehen und haben angesichts der massiven Teuerungen und vergleichsweise moderaten Lohnsteigerungen im Sommer zu Streiks aufgerufen. Am Mittwoch haben zehntausende Beschäftigte der Royal Mail und der britischen Telekom die Arbeit niedergelegt, in Schottland steht die Müllabfuhr still. In Edinburgh, Glasgow und Aberdeen stapeln sich die Müllsäcke. Zudem streikten im August Bahnbedienstete und Hafenarbeiter. Es regt sich überall im Land Widerstand. Die Rede ist von "schändlicher Ungerechtigkeit", der Groll gegen Politiker und Reiche steigt, Zahlungsverweigerung wird propagiert: "Enough is Enough" lautet die Parole.

"Gewaltiges Hilfspaket" in Aussicht gestellt

Zu der Misere kommen die negativen Auswirkungen des britischen EU-Austritts. Ein Bericht des Parlaments hält fest, dass der Brexit der Wirtschaft keine Vorteile, stattdessen nur Probleme gebracht hat. Demnach sind die Kosten für Unternehmen gestiegen, es gibt mehr Bürokratie zu bewältigen, an den Grenzen kommt es zu Verzögerungen. Der Brexit hat das britische Handelsvolumen schrumpfen lassen und der Ukraine-Krieg zieht die Wirtschaft weiter nach unten.

Diese Entwicklungen lassen die Alarmglocken schrillen, die Rede ist von einer künftigen Katastrophe. Politiker und Experten fordert von der neuen politischen Führung in Downing Street 10 drastische Schritte. So müsse ein Energieunterstützungspaket im Umfang von mehreren Milliarden Pfund geschnürt werden.

Die beiden Anwärter auf das Amt des Premiers, Liz Truss und Rishi Sunak, versprechen umfangreiche Entlastungen - entweder durch Steuersenkungen oder direkte Unterstützung bei der Begleichung der Stromrechnungen. Truss kündigte zudem massive Steuersenkungen an - was Sunak als ehemaliger Finanzminister nicht unterstützt.

Der scheidende Premier Boris Johnson hat bereits angekündigt, dass demnächst "ein gewaltiges Hilfspaket" vorgestellt werde - egal, wer seine Nachfolge antrete. Doch ist Johnsons Glaubwürdigkeit bei den Briten nach zahlreichen Skandalen gering.