Zum Hauptinhalt springen

Fahrlässige Faschismuskeule

Von Julian Mayr

Politik

Italiens laxes Verhältnis zum Faschismus zeigt sich auch an Giorgia Meloni kurz vor den Parlamentswahlen.


"Es ist nicht nur Trump, sondern die ganze Philosophie. Es ist wie Semi-Faschismus." Mit diesen Worten ließ US-Präsident Joe Biden kürzlich auf einer Kundgebung nahe Washington aufhorchen. Ex-Präsident Donald Trump und seine Anhängerschaft hegen laut Biden antidemokratische und gewaltbereite Tendenzen. Obschon nicht der gesamten Republikanischen Partei geltend, löste der Demokrat Biden mit seinem Sager im gegnerischen politischen Lager Entrüstung aus.

Im Mutterland des Faschismus wird man zu den Diskussionen in Übersee kaum mehr als ein müdes Lächeln verlieren. In Italien ist das Aufflammen faschistischer Tendenzen in Politik und Gesellschaft seit der Geburt der Republik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie zum Erliegen gekommen. Seit 1946 schicken sich neo- und postfaschistische Kräfte an, das politische System in Italien aufzumischen - im Hinblick auf die Parlamentswahl am 25. September etwa die einer postfaschistischen Tradition entstammende Giorgia Meloni und ihre Fratelli d’Italia (FdI). Der Faschismus-Vorwurf bietet sich gerade in Wahlkampfzeiten als prominentes Stilmittel zur Diskreditierung der Rechten an.

Italiens Rechte hat den Faschismus laut Eigenaussagen zwar bereits der Geschichtsschreibung überlassen. Eben diese aber bescheinigt Politik und Gesellschaft in Italien ein relativierendes, fast lockeres Verhältnis zum totalitären Regime: "In Italien wird der Faschismus nach wie vor oberflächlich und wohlwollend beurteilt. Er gilt als gemäßigte Diktatur, dessen Radikalität und Gewalttätigkeit allgemein unterschätzt wird", meint Andrea Di Michele, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bozen.

Die Verbrechen der Faschisten in Afrika und dem Balkan oder die Verfolgung politischer Gegner und später auch der Juden würden laut Faschismusforscher Di Michele auch von den Medien beschönigt oder ignoriert. Das Regime werde gerne auf Faschistenführer Benito Mussolini reduziert, von dem ein beschwichtigendes Bild des guten Familienvaters gezeichnet wird, im Gegensatz zur Grausamkeit Adolf Hitlers. Zudem sei, ähnlich wie lange auch in Österreich, noch immer der Mythos umtriebig, das italienische Volk sei ein Opfer des Faschismus gewesen.

Der Wahrheit entspricht dieser nicht. "Ich habe den Faschismus nicht geschaffen, nur aus dem Unterbewusstsein der Italiener ans Licht geholt", hatte Mussolini gesagt. Bezeichnend, dass er zumindest zeitweise den Rückhalt einer breiten Mehrheit der Bevölkerung innehatte.

Antworten auf Krisen

In den beginnenden 1920er Jahren, so Di Michele, sei der italienische Faschismus jedenfalls die Antwort auf die Krise des liberalen Staates nach den Umwälzungen des Ersten Weltkriegs gewesen. Heute, hundert Jahre nach dessen Machtergreifung, zeige sich eine Krise der repräsentativen Demokratie und des neoliberalen Wirtschaftsmodells, beobachtet Paul Corner: "Die Menschen haben keinen Gemeinsinn mehr und wissen nicht, wo sie ihr Glück suchen sollen. Die Rechte scheint eine klare Antwort darauf zu vermitteln", sagt der Professor für Europäische Geschichte an der Universität Siena.

Diese Rechte besteht in Italien substanziell aus Matteo Salvinis rechtspopulistischer Lega, Silvio Berlusconis rechtskonservativer Forza Italia und den Postfaschisten der FdI. Ihnen allen gemein ist eine ambivalente Beziehung zum Faschismus und Mussolini. Zwar distanzieren sich die Parteichefs von der Diktatur und insbesondere den Rassengesetzen des Jahres 1938, halten den Faschismus für tot, spielten die historische Tragweite des Regimes aber allzu oft herunter. Fast leger dementierte Meloni kürzlich gegenüber "The Intercept" Vorwürfe, sie sei eine Faschistin: "Ich verstecke mich nicht. Wenn ich eine Faschistin wäre, würde ich sagen, dass ich eine bin." Auf eine Stufe mit den Faschisten sei sie ohnehin nicht zu stellen: "Ich sehe Meloni und die FdI eher im Einklang mit anderen rechtspopulistischen Bewegungen, die wir in ganz Europa finden, als mit den Erfahrungen des historischen Faschismus der 1920er und 1930er Jahre", sagt Di Michele.

Merkmale des Faschismus

Zentrale Merkmale des historischen Faschismus sind laut den Historikern die Militarisierung der Politik, also die systematische Anwendung von Gewalt als politisches Mittel, die Errichtung eines Einparteiensystems mit einem starken Führer an der Spitze von Partei und Nation und sogleich die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Zudem fußt der Faschismus auf einem Hypernationalismus, so Di Michele, der auf die Konstruktion einer neuen Ordnung und eines "neuen Menschen" abzielt, der mythische Aspekte der Vergangenheit mit neuen, vom Regime vorgeschlagenen Elementen verbinde.

Das Projekt der zeitgenössischen italienischen Rechten beinhalte hingegen weder die Abschaffung der Demokratie und die Errichtung einer totalitären Einparteienordnung oder die Gewaltanwendung als Instrument des politischen Wettstreits, meint Di Michele. Noch entspreche ihr Zukunftsdenken jenem faschistischem, es sei viel mehr defensiv, so Paul Corner: "Es geht einfach nur um Kontrolle nach bestimmten konservativen Werten." Programmatische Dauerbrenner sind neben dem Kampf gegen Migration der Schutz der traditionellen Familie, eine Außenpolitik- und Wirtschaftspolitik im Sinne der nationalen Interessen sowie massive Steuersenkungen.

Allerdings gibt es auch Analogien, etwa die Intoleranz gegenüber Minderheiten bis hin zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die Verteidigung der Nation sowie das Vorantreiben eines neuen Autoritarismus à la Viktor Orban, wie laut Corner nicht zuletzt die Bestrebungen Melonis nach einem Umbau des derzeitigen politischen Systems in ein präsidiales zeigen.

Eine beliebige Verwendung des Terminus Faschismus lehnt Zeitgeschichte-Professor Di Michele ab: "Wenn der Begriff Faschismus auf beliebige Weise verwendet wird, wenn alles Faschismus ist, dann ist auch nichts Faschismus, das heißt, man versteht nicht mehr, was die kennzeichnenden Elemente des ‚wahren‘ Faschismus sind, der in einem präzisen historischen Kontext aus bestimmten Gründen entstanden ist." Die Folgen wären eine Banalisierung und fortschreitende Verharmlosung.

Rechtliche Schranken

Während Umberto Eco vom "ewigen Faschismus" sinnierte, sieht Di Michele demnach auch kein konkretes Risiko einer Rückkehr des Regimes. Zumindest nicht als bestimmende Macht. Mit Bewegungen wie Casa Pound oder Forza Nuova beherbergt Italien nach wie vor politische Kräfte, die sich offen zum Faschismus bekennen. Bereits das von Exponenten des Regimes in den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs aus der Taufe gehobene Movimento Social Italiano, deren Jugendbewegung einst auch Giorgia Meloni angehörte, deklarierte sich als Nachfolger des Faschismus.

Das, obwohl die rechtlichen Schranken eigentlich klar seien: Die Wiedergründung der faschistischen Partei und die Lobpreisung derer Prinzipien und Taten sind formell verboten. "Es war eine politische Entscheidung, die von der Überzeugung diktiert wurde, dass es besser war, eine faschistische Bewegung im Lichte der Öffentlichkeit zu haben, als eine, die sich im Verborgenen bewegte und daher potenziell gefährlicher für die republikanischen Institutionen war", bekräftigt Di Michele. "Die Gesetze sind da. Man muss lediglich entscheiden, mit welcher Konsequenz und Strenge man sie anwendet."