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Als plötzlich alles anders war

Von Vilja Schiretz aus London

Politik
Unzählige Menschen versammelten sich am Freitag vor dem Buckingham Palace.
© reuters / Smiejkowska

Das offizielle Großbritannien trauert nach Protokoll, doch tausende Briten verabschieden sich auf ihre Art.


Eine Stadt mit neun Millionen Einwohnern steht nicht still. Zwar werden Sportveranstaltungen abgesagt und ein Streik der Royal Mail verschoben, doch auch am Tag nach dem Tod von Queen Elizabeth geht das Leben in London weiter. Menschen fahren mit der U-Bahn zur Arbeit, kaufen im Supermarkt ein, bringen ihre uniformierten Kinder in die Schule. Der Betreiber eines Bed and Breakfast schüttelt vor der Haustür Bettzeug aus, ein Fahrradbote stellt eine Pizza zu.

Irgendwann wird Charles in London eintreffen, gestern noch Prinz, heute König. Er wird sich erstmals als Monarch an sein Volk wenden, wird Premierministerin Liz Truss zu einer Audienz treffen. Diese wird wiederum gemeinsam mit den Abgeordneten im Parlament die verstorbene Königin würdigen und am Abend an einem Gedenkgottesdienst in der St. Paul’s Cathedral teilnehmen.

Blumen für die Queen

Von all dem ist in einem Wohnviertel weit weg vom Zentrum der britischen Hauptstadt nichts mitzubekommen. Und doch ist an jeder Ecke der Metropole zu spüren, dass alles anders ist, als es noch einen Tag davor war. Staatstragend blickt die Königin von einer Werbetafel vor einem Supermarkt. Wo normalerweise Angebote angepriesen werden, steht heute nur "Her Majesty the Queen. 1926-2022." Im Supermarkt sind die Zeitungen direkt neben dem Eingang größtenteils ausverkauft, die Titelseiten der verbliebenen unterscheiden sich kaum, egal ob es sich um "The Sun" oder die "Financial Times" handelt.

Gut bestückt sind hingegen noch die Kübel, in denen Blumensträuße zum Kauf angeboten werden. Das ist überraschend, denn abertausende Menschen haben sich bereits vor dem Buckingham Palace versammelt, um Blumen vor dem Palast niederzulegen. Viele haben kleine Kinder an der Hand oder schieben betagte Angehörige im Rollstuhl über den Platz. Eine große Zahl von Polizisten bittet die Trauernden, sich ganz hinten in der Schlange anzustellen, die sich bereits weit über den Platz hinaus um die Palastmauern windet. Die Menschen haben bescheidene Sträuße aus dem Supermarkt ebenso dabei wie riesige und aufwendig gebundene Bouquets.

So verschieden wie die Blumen sind auch die Menschen in der Schlange, alle Altersgruppen, Religionen, Kulturen und Hautfarben sind vertreten. Viele haben sich in Schale geworfen, die einen erweisen der Queen im schwarzen Anzug die letzte Ehre, die anderen in traditioneller afrikanischer Kleidung in prächtigen Farben und Mustern. Von all dem ist wenig zu sehen, sobald es am späten Vormittag über der Londoner Innenstadt zu regnen beginnt und sich die Straßen um den Palast in ein buntes Meer aus Regenschirmen und Plastikjacken verwandeln. Unter ihren wasserabweisenden Kapuzen kommen einigen Trauernden die Tränen, andere stellen sich auf die Zehenspitzen und versuchen, das Geschehen mit ihrer regennassen Handykamera einzufangen.

Ungewohnte Stille

Gesprochen wird kaum, es ist still im Zentrum der Weltstadt. Während die Menschen darauf warten, ihre Blumen am Zaun des Buckingham Palace zu hinterlassen, befördert The King’s Troop Royal Horse Artillery bereits sechs historische Kanonen in den Hyde Park, wo später 96 Kanonenschüsse zu Ehren des verstorbenen Staatsoberhauptes fallen werden. In rot-schwaz-goldenen Gardeuniformen reiten die Männer und Frauen auf stolzen schwarzen und braunen Pferden durch den Wellington Arch, flankiert von Polizisten in neongelben Regenüberwürfen.

Doch das Wetter ist gnädig mit den tausenden Menschen, die sich bereits im Park um ein eingezäuntes Stück Rasen versammelt haben, erstmals seit dem Ableben der Monarchin reißt die Wolkendecke über London auf. "Das dauert noch so lang", sagt eine junge Frau und schaut auf die Uhr. Erst in einer Stunde wird die erste Kanone abgefeuert werden. "Ich muss zurück in die Arbeit. Andererseits kann ich von hier aus mein Büro sehen, es wird schon in Ordnung sein." Ihr Chef werde das schon als verlängerte Mittagspause durchgehen lassen, hofft sie. Auf den Aufnahmen der Fernsehkameras, die in der Nähe aufgebaut worden sind, will sie trotzdem nicht zu sehen sein, erklärt sie einer Freundin am Telefon, das könnte der Chef dann doch schlecht auffassen.

Eine andere Frau telefoniert mit einer Freundin, die vor der Westminster Abbey auf das Glockengeläut zu Ehren der Königin wartet. Sie werden sich gegenseitig von ihren Erlebnissen erzählen, versprechen sie sich, von den Glocken und von den Schüssen.

Unbeeindruckt von den Menschenmassen hoppelt ein Eichhörnchen über den abgesperrten Rasen. Mit einer Nuss im Maul hält es vor einem Baum inne, mustert verständnislos das Geschehen. Das Nagetier sorgt für ein kollektives Lächeln, Handykameras werden gezückt. Menschen winken sich zu, freuen sich, bekannte Gesichter in der Masse zu entdecken.

Das Leben muss weitergehen

Dann ertönt der erste Schuss. Die Menge zuckt zusammen. Den leisen "Fire!"-Ruf, der dem Schuss vorangegangen ist, hat kaum jemand gehört. Im Park wird es ruhig. Der Wind streicht durch die Bäume, man kann Vogel zwitschern hören. Fünfundneunzig weitere Kanonenschüsse zerreißen die Stille, ein Schuss für jedes Lebensjahr der Queen. Die Frau, die sich später noch vom Glockengeläut in der Westminster Abbey erzählen lassen will, beginnt bitterlich zu weinen.

Auch eine junge Polizistin, die eben noch mit den Wartenden gescherzt hat, kämpft mit den Tränen. "This is so sad", flüstert irgendjemand. Fast fünfzehn Minuten dauert es, bis jedes Lebensjahr der Königin mit einem Kanonenschuss gewürdigt ist.

Dann werden die Kanonen in weniger als fünf Minuten wieder auf die Pferdewagen verladen und aus dem Park geschafft. Die Menschenmenge löst sich auf, so gesittet, wie es nur ein Volk kann, das für sein geordnetes Schlangestehen bekannt ist. Die Frau mit dem möglicherweise verstimmten Chef hat es eilig, zurück zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Das Leben muss ja schließlich weitergehen, auch wenn plötzlich alles anders ist.