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In drei Geschwindigkeiten gegen Orban

Von Alexander Dworzak

Politik

EU-Parlament, EU-Kommission und EU-Staaten stehen Ungarns Premier mehrheitlich kritisch gegenüber. Der Streit um fehlende Rechtsstaatlichkeit zeigt, wie sehr Orban die Anbindung an die Europäische Volkspartei fehlt.


Die Zeit läuft: Zwei Monate gibt die EU-Kommission Ungarns nationalpopulistischer Regierung, um gravierende rechtsstaatliche Mängel zu beheben. Unter Druck aus Brüssel legte das Kabinett in Budapest dem Parlament Gesetzesänderungen vor. Künftig soll die ungarische Steuerbehörde dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) verstärkte Amtshilfe leisten, unter anderem Zugriff auf Dokumente des Finanzamts liefern. Und die Konstruktion, dank der die meisten ungarischen Universitäten in Stiftungen überführt wurden, soll aufgeweicht werden. Dort dominieren Vertreter der Regierungspartei Fidesz und deren Günstlinge die Gremien.

Warum Premierminister Viktor Orban nun handelt, lässt sich anhand einer Zahl erklären: 7,5 Milliarden Euro. Ungarn droht, 65 Prozent der Mittel aus drei EU-Programmen zur Förderung benachteiligter Regionen zu verlieren. Weitere Milliarden Euro an Corona-Hilfen blockiert die EU-Kommission. Es ist Geld, das der seit 2010 amtierende Premier dringend benötigt. Lautet doch Orbans Hauptversprechen, dass es den Wählern niemals schlechter als unter den sozialistischen Vorgängerregierungen der Nullerjahre gehen werde. Die Erfahrungen von Finanz- und Wirtschaftskrise in der Zeit haben tiefe Spuren in der ungarischen Gesellschaft hinterlassen.

Orbans Kabinett alimentierte die Bürger, deckelte etwa als Wahlkampfmaßnahme die Treibstoffpreise. Die Inflation schießt aber in die Höhe, erreichte mit 13,7 Prozent im Juli den höchsten Wert seit 1998. Der Forint sackte sogar gegenüber dem schwächelnden Euro ab, Ende August erreichte er den Tiefststand. Für einen Euro erhielt man 411 Forint, zu Jahresbeginn waren es 370.

Während die Bürger zusehends unter finanziellen Druck geraten, blüht die Korruption unter den Eliten. Ein Umfeld, "in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Freunderlwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden", kritisierte die EU-Kommission im Juli.

Lange in der Minderheit

Auf Defizite in Ungarn weisen Mitglieder des EU-Parlaments seit Jahren hin. Abgeordnete zählen zu den vehementesten Kritikern Viktor Orbans, lange waren sie nur eine laute Minderheit. Erst mit dem Zerwürfnis zwischen Fidesz und der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), das im Austritt der Ungarn aus der Partei und der größten Fraktion im EU-Parlament mündete, rückten die Probleme in Ungarn ins Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit.

Das zeigte sich auch bei der Abstimmung im EU-Parlament vergangene Woche: Eine klare Mehrheit von Mandataren befürwortete einen Zwischenbericht, in dem Ungarn als "Wahlautokratie" bezeichnet wird, in der ein Zerfall von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten eingesetzt habe. 433 Abgeordnete votierten für den Bericht, 123 dagegen, weitere 28 enthielten sich laut Abstimmungsmonitor der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Neben Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen begrüßten 113 EVP-Parlamentarier den Bericht. Nur neun EVP-Abgeordnete stimmten mit Nein, 14 gaben keine Stimme ab.

Auch innerhalb der EU-Kommission ist der bürgerlich-konservative Widerstand spürbar. War es in der bis 2019 amtierenden Kommission der Sozialdemokrat Frans Timmermans, fungiert nun die Mitte-rechts stehende Tschechin Vera Jourova als Feindbild der Regierung in Budapest; Orban forderte 2020 ihren Rücktritt. Und es war der aus der ÖVP stammende Budgetkommissar Johannes Hahn, der verkündete, dass das erstmalige Rechtsstaatsverfahren gegen ein EU-Mitglied Ungarn Milliarden Euro kosten könnte - wenn auch langsamer, als viele Parlamentarier wünschen. Im April leitete die Kommission das Verfahren ein. Zuvor wies der Europäische Gerichtshof eine Klage Ungarns und Polens gegen den neuen Rechtsstaatsmechanismus ab.

Dieser besagt, dass jedwede öffentliche Gewalt "innerhalb des geltenden Rechts im Einklang mit den Werten der Demokratie und der Achtung der EU-Grundrechte unter der Kontrolle unabhängiger und unparteiischer Gerichte" stehen müsse. Bis Juni soll die ungarische Regierung nicht einmal auf Bedenken der Kommission eingegangen sein. Erst ein Schreiben, in dem die Kommission erläuterte, wie viel Geld auf dem Spiel steht, soll Gesprächsbereitschaft in Budapest erzeugt haben.

Geld und Einstimmigkeit

Die Behäbigkeit spiegelte die lange vorherrschende Gewissheit wider, Ungarn müsse nicht um die Milliarden Euro bangen. Denn die Entscheidung darüber liegt nicht bei der Kommission. Zuständig sind die Mitgliedsländer, mindestens 15 von ihnen, die 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen, müssen gegen Ungarn stimmen. Offen springt nur Polens nationalkonservative Regierung nun Orban bei. Selbst wenn der Krieg in der Ukraine Verstimmung zwischen der Russland-affinen Regierung in Budapest und der gegenüber der Ukraine bedingungslos solidarischen in Warschau offenlegte, in zwei Belangen gehen Ungarn und Polen - gegen das ebenfalls ein EU-Verfahren läuft - Hand in Hand: Geld und Stimmgewichtung in der EU.

Die Unionsländer beschäftigt, ob und in welchen Bereichen künftig das Einstimmigkeitsprinzip gelten soll. Dazu zählen derzeit auch die Sanktionen gegen Russland. Am Dienstag deponierte Ungarns Außenminister Peter Szijjarto, dass sein Land gegen ein achtes Maßnahmenpaket gegen Russland ist. Der Zeitpunkt dürfte weniger als Zufall denn als Fingerzeig zu verstehen sein.

Aber auch unter den Regierungen ist der Gegenwind für Orban größer geworden. Stellvertretend dafür steht die österreichische Bundesregierung. Seit dem Ende von Türkis-Blau betont Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) Wert und Relevanz von Rechtsstaatlichkeit in der EU. Dass Deutschland als wichtigstes Unionsland und größter Handelspartner Ungarns nun von einer Ampelregierung geführt wird, hatte Orban so kommentiert: "Es kommen neue Zeiten, mit offenem Visier."

Regierungsnahe ungarische Kreise hoffen derweil, dass sich Ungarn mit der Kommission einigt. Die Behörde könne dann auf den wirksamen Rechtsstaatsmechanismus verweisen. Das Parlament sich damit brüsten, dass dessen Druck zu Änderungen geführt habe. Die EU-Regierungen wären erst gar nicht mit dem Problem beschäftigt. Und Orbans Regierung fiele nicht um Milliarden Euro um.