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Russische Wehrdienstverweigerer: Wer ist willkommen?

Von Alexander Dworzak

Politik

Deserteure versuchen, sich ins Ausland abzusetzen. Die EU steht vor einer weiteren Asyldebatte.


Keine zwei Wochen sind vergangen, seit die EU-Länder das Visaerleichterungsabkommen mit Russland ausgesetzt haben. Russen, die sich bis zu 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen in der Union aufhalten wollen, müssen nun zusätzliche Dokumente vorlegen, mit längeren Bearbeitungszeiten rechnen wie auch mit strikterer Handhabe bei der Vergabe von Mehrfachvisa und 80 statt 35 Euro Antragsgebühr zahlen. Der privilegierte Zugang in die EU ist dadurch gekappt. Noch einen Schritt weiter gehen die baltischen Länder - Estland, Lettland und Litauen - sowie Polen. Sie weisen russische Bürger an ihren Grenzübergängen per se ab. In der Union werden somit nicht nur die politische Führung Russlands, Oligarchen und Unternehmen sanktioniert. Auch der unmittelbare Umgang mit russischen Bürgern ist restriktiver geworden.

Nun aber wird in Europa nicht über Verschärfungen diskutiert, sondern über Erleichterungen. Denn auch für jene Russen, die vor dem Krieg in der Ukraine die Augen verschließen wollten, ist seit der Mobilmachung durch Präsident Wladimir Putin klar, dass viel mehr als eine "militärische Sonderoperation" im Gange ist. Hunderttausende Männer müssen einrücken und zur Waffe greifen. Ein Mann sagte BBC-Reporter Steve Rosenberg: "Es gibt derzeit eine Wahl: In den Krieg zu ziehen und unschuldige Menschen zu töten, oder du gehst ins Gefängnis." Er werde daher Russland verlassen. Wie sollen die EU-Länder mit jenen Russen umgehen, die nicht in den Krieg ziehen wollen?

Zurückhaltend gibt sich bisher die EU-Kommission. Eine Sprecherin sagte, Betroffene hätten das Recht, einen Asylantrag in der Union zu stellen. Dabei müssten auch Sicherheitsaspekte berücksichtigt werden - eine Anspielung auf die Furcht, dass russische Agenten, die sich als Deserteure tarnen, in die EU eingeschleust werden könnten. Die Kommission arbeite mit den EU-Ländern an einem gemeinsamen Ansatz. Auf "eine tragfähige Lösung" binnen Wochen hofft der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Im gewichtigsten EU-Staat forcieren die kleinen Regierungsparteien FDP und Grüne bereits eine großzügige Aufnahmepolitik: "Anscheinend verlassen viele Russen ihre Heimat: Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen", twitterte der liberale Justizminister Marco Buschmann. Zurückhaltender agiert die Kanzlerpartei SPD. Innenministerin Nancy Faeser sagte lediglich "von schweren Repressionen bedrohten Deserteuren" zu, dass sie "im Regelfall internationalen Schutz in Deutschland" erhalten - eine Formulierung, die viel Interpretationsspielraum lässt.

Während deutsche Liberale und Grüne darauf hoffen, dass die Aufnahme von Wehrdienstverweigerern Russland weiter schwächt, ist die Herangehensweise des EU-Ratsvorsitzenden Tschechien völlig konträr. Wer den Pflichten gegenüber seinem eigenen Staat nicht nachkommen wolle, erfülle damit noch nicht die Bedingungen für die Erteilung eines humanitären Visums, richtete Außenminister Jan Lipavsky aus. Für Montag wurde ein Treffen der 27 EU-Botschafter einberufen.

Opposition in Russland gebraucht

Tschechien zählt zu den stärksten Unterstützern der Ukraine. Lipavskys Überlegung baut darauf auf, dass die Unzufriedenen in Russland gebraucht werden, um Putins Regime ins Wanken zu bringen. Ähnlich begründete Estlands Premierministerin Kaja Kallas das Einreiseverbot für Russen: "Nur 30 Prozent der russischen Bürger haben internationale Pässe und sie stammen aus der russischen Elite. Das bedeutet, sie haben auch die Möglichkeit, den Kreml zu anderen Entscheidungen zu drängen, wenn sie fühlen, dass dieser Krieg ihren Alltag beeinflusst."

Sich gegen die skrupellose Staatsmacht, Polizei und Richterschaft aufzulehnen, erfordert jedoch viel Mut. Vielen Russen ist politisches Engagement fremd. Jahrelang herrschte die unausgesprochene Vereinbarung mit dem System: Wir lassen euch gut Ausgebildete in Ruhe, dafür mischt ihr euch nicht in unsere Angelegenheiten ein. Wer das heute doch tun möchte, blickt ins Nichts. Die Organisationsstrukturen von Putins schärfstem Widersacher Alexei Nawalny wurden zerschlagen.

Am 46-Jährigen zeigt sich auch, dass Widerstand lebensgefährlich sein kann. Zwar überlebte Nawalny einen Giftanschlag, wurde aber nach seiner Genesung und Rückkehr nach Russland inhaftiert und mit Prozessen überzogen. Nun sitzt er im Straflager, mit schlechten Gesundheitsaussichten. Andere wurden regelrecht exekutiert, prominenteste Beispiele sind der Oppositionspolitiker Boris Nemzow, 2015, und die Journalistin Anna Politkowskaja, 2006.

Wer heute in Russland gegen den Krieg demonstriert, muss mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen. Selbst eine Demonstrantin, die auf ein Plakat lediglich "Zwei Worte" geschrieben hate, gemeint war "Kein Krieg", wurde abgeführt. Dasselbe passierte einer Frau, die ein völlig unbeschriftetes Plakat hochhielt. Personen, die Mut bewiesen haben, wären mit Sicherheit in der EU willkommen. Aber was geschieht mit jenen, die über Jahrzehnte Putin entweder unterstützt oder ihn zumindest stillschweigend toleriert haben?

Die direkte Einreise in die EU ist nur mehr über Finnland möglich. Die südöstliche Grenze zu Russland sei weiterhin stark frequentiert, teilte der Grenzschutz des Landes am Freitag mit. Ministerpräsidentin Sanna Marin erklärte, der russische Tourismus müsse gestoppt werden, ebenso wie der Transit durch Finnland. Viele Russen versuchen daher, mit dem Auto in die Ex-Sowjetrepubliken Armenien, Georgien und Kasachstan zu gelangen. Flüge nach Dubai, Belgrad und Istanbul sind weiter hochbegehrt und enorm teuer.

Trotz staatlicher Dauerpropaganda: Kriegsbegeisterung sieht anders aus.