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Das Comeback des europäischen Raketenschilds

Von Ronald Schönhuber

Politik

Bereits 2012 wurde der Grundstein für einen gemeinsamen Abwehrschirm gelegt, das Projekt blieb aber Stückwerk.


Als die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Staaten im Mai 2012 in Chicago zu ihrem alljährlichen Gipfeltreffen zusammenkamen, ging es neben einem eventuell früheren Abzug aus Afghanistan vor allem um ein Flaggschiff-Projekt. Mit dem gemeinsamen Raketenschild sollte Europa künftig vor der Bedrohung durch ballistische Kurz- und Mittelstrecken geschützt werden, die immer mehr Länder in ihren Arsenale haben. Die ersten Teilsysteme, die sich vor allem auf entsprechend ausgestattete US-Kriegsschiffe und eine Radarstation in der Südosttürkei stützten, wurden noch am Gipfel für einsatzbereit erklärt.

Den großen Ambitionen zum Trotz blieb der Raketenschild allerdings Stückwerk. Zu den 2012 in Dienst gestellten Systemen kam in den vergangenen Jahren nur noch eine Raketenabschussbasis im rumänischen Deveselu dazu. An der polnischen Küste wird zwar an einer ähnlichen Einrichtung gebaut, die ursprünglich für 2018 geplante Fertigstellung hat sich seither aber immer wieder verzögert. Von der für Mitte der 2020er Jahre avisierten großflächigen Einsatzbereitschaft ist man damit weit entfernt.

Russische Muskelspiele

Dass der Ausbau des Raketenschilds nur so schleppend vorangekommen ist, hat nicht zuletzt mit der Gegenwehr des Kremls zu tun. Von Beginn an hatte die Regierung in Moskau den Abwehrschirm als gegen Russlands gerichtete Einrichtung bezeichnet, die das strategische Gleichgewicht mit dem Westen gefährden würde. Und der Kreml ließ immer wieder seine militärischen Muskeln spielen. So hat die russische Armee nicht nur die Flüge ihrer atomwaffenfähigen Bomber in den vergangenen Jahren demonstrativ ausgeweitet, sondern auch ihr bodengestütztes Nukleararsenal weiter an die Nato-Grenzen herangerückt. In der zwischen Polen und Litauen liegenden russischen Exklave Kaliningrad sind mittlerweile Iskander-Kurzstreckenraketen stationiert, die auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden können und nur wenige Minuten brauchen, um Berlin oder Warschau zu erreichen.

Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar und das seither immer intensiver werdende nukleare Säbelrasseln des Kremls haben nun aber offensichtlich im Westen zu einer Neubewertung des Raketenschirms geführt. So haben 14 europäische Nato-Staaten am Donnerstag am Rande eines Verteidigungsministertreffens eine Absichtserklärung unterzeichnet, die die gemeinsame Organisation und Beschaffung von Luftabwehrsystemen vorsieht.

Die von Deutschland angestoßene Initiative "European Skyshield", an der sich unter anderem auch Großbritannien, die Niederlande und die baltischen Staaten beteiligen, soll zunächst einmal helfen, die bestehenden Lücken im derzeitigen Schutzschirm für Europa zu schließen. Defizite gibt dort beispielsweise im Bereich ballistischer Raketen, die auf ihrer Flugbahn große Höhen erreichen, aber auch bei der Abwehr von Drohnen und Marschflugkörpern. Nach dem Ende des Kalten Krieges war in Europa kaum noch in diese Fähigkeiten investiert worden.

Abwehr im Weltraum

Um die Bestände aufzufüllen, sollen nun neue Waffensysteme wie etwa das Iris-T-System des deutschen Herstellers Diehl Defence eingekauft werden, das Deutschland gerade an die Ukraine geliefert hat. Im Gespräch sind auch die Raketenabwehrbatterien "Patriot" des US-Herstellers Raytheon, die schon im Rahmen des zweiten Golfkrieges gegen irakische Scud-Flugkörper eingesetzt wurden und das US-israelische System "Arrow 3", das feindliche Ziele auf Distanzen von mehreren hundert Kilometern und auch an der Grenze zum Weltraum bekämpfen kann. Letzteres ist vor allem wichtig, wenn es um die Abwehr von ballistischen Raketen mit Nuklearsprengköpfen geht.

"Es ist entscheidend, dass es jetzt schnell geht in Bezug auf die Beschaffung von Patriots, in Bezug auf die Beschaffung von Iris-T und natürlich auch in Bezug auf die Beschaffung eines darüber hinausgehenden Verteidigungssystems", sagte die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Die Verhandlungen mit den Herstellern über entsprechende Lieferverträge sollten nun so rasch wie möglich beginnen. Das soeben an die Ukraine geliefert Iris-T-System hat die deutsche Bundeswehr etwa selbst noch gar nicht in ihren Beständen.

Wann der Abwehrschirm einsatzbereit seien soll, sagte Lamprecht nicht. Als wahrscheinlicher Zeithorizont gilt aber das Jahr 2025. Dieses Datum hatte die Verteidigungsministerin im September als das frühestmögliche für einen Einsatz von "Arrow 3" in Deutschland genannt.