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Wie der Rand bei den Tories zum Zentrum wurde

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Der Rücktritt von Liz Truss markiert den Höhepunkt des Polit-Chaos in Großbritannien. Die Ursachen dafür liegen länger zurück.


Erstaunlicher könnte nicht sein, was sich derzeit in London abspielt. Nur 45 Tage nach dem Amtsantritt von Liz Truss ist schon wieder ein Wechsel fällig in No 10 Downing Street. Wer nach dem Rücktritt der Premierministerin am Donnerstag die Regierungsgeschäfte in Großbritannien übernehmen soll, ist allerdings ungewiss. Denn mit dem politischen Chaos, das derzeit in London herrscht, ist das Amt des britischen Premierministers wohl der schwierigste und undankbarste Politjob geworden, den es derzeit im Land zu vergeben gibt.

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Bereits in den Wochen vor dem Abgang von Truss hatte sich die Regierung mit aller Macht ins politische Abseits manövriert. Gäbe es parlamentarische Neuwahlen, wie es viele Briten nun fordern, würden die Tories kaum noch über Sitze im Unterhaus verfügen. Fassungslos steht die Partei, die vor drei Jahren einen triumphalen Wahlsieg errang, vor einem beispiellosen Niedergang. Dieselben Tory-Mitglieder, die noch im Sommer Truss die Parteiführung zuschoben, können mittlerweile nicht mehr glauben, dass sie diese Entscheidung getroffen haben - und dass sich aus ihr eine derartige Implosion der Partei ergab.

Johnson will antreten

Wie man die Nachfolgefrage schnell lösen kann, war am Donnerstag die große Frage. Kurioserweise drängt eine inzwischen vollkommen desorientierte Parteibasis darauf, Boris Johnson "zurückzubringen": Jenen Ex-Premier, der erst vor kurzem mit Schimpf und Schande aus der Regierungszentrale vertrieben worden war. Dabei ist Johnson, der nach dem Rücktritt von Truss auch gleich mit einem Comeback liebäugelte und dies als "Sache von nationalem Interesse" bezeichnete, natürlich einer der Gründe dafür, warum die historisch erfolgreichste Partei Europas, die sich stets als "die natürliche Regierungspartei" in Großbritannien betrachtete, jetzt solche Turbulenzen durchlebt. Nicht nur hat Johnson mit seiner Missachtung von Verfassungsnormen, seinen spektakulären Regelverstößen und seiner Geringschätzung des Parlaments den Boden für eine Politik bereitet, die sich primär um die Durchsetzung des eigenen Willens kümmert. Der 58-Jährige war es auch, der mit ebenso überschwänglicher wie unernster Rhetorik den alten imperialen Traum eines von allen europäischen "Ketten" befreiten und wieder machtvoll auf den Weltmeeren dahinsegelnden Britannien neu beflügelt hat.

Johnson besorgte den Brexiteers erst für den EU-Austritt und dann später für den härtestmöglichen Brexit die nötigen Stimmen, indem er seinem Land eine "goldene Zukunft" versprach - obwohl er sich selbst kurz vor dem Referendum keineswegs sicher war, ob der Brexit für ihn überhaupt in Frage kam. Indem er den früher am Rande des politischen Spektrums angesiedelten Nationalkonservativen und Verfechtern ungezügelter Märkte den Weg ins Zentrum der Macht ebnete, machte der ehemalige Londoner Bürgermeister deren Programm im Vereinigten Königreich gesellschaftsfähig.

Kritiker seiner Politik warf Johnson aus der Partei. Sein Kabinett bestückte er, soweit er konnte, mit Loyalisten. Ihn selbst rettete das am Ende freilich nicht. Das Prinzip populistischer Parolen, einer verengten Weltsicht und eines folgsamen Kabinetts aber trieb seine Nachfolgerin prompt - und kompromisslos - auf die Spitze.

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Für Truss ging es nur noch um die Post-Brexit-Abschaffung bestehender Restriktionen, die "Entfesselung" privaten Kapitals und die Begünstigung der Reichsten und Privilegiertesten - ungeachtet steigender Inflationsraten und ernster Warnungen von überall her. Mit einem Mal fand sich die Mehrheit der Tory-Abgeordneten, von der Tory-Linken bis zu erzkonservativen Hinterbänklern und Ex-Ministern, aus dem Kreis der immer weiter nach rechts rückenden "Revolutionäre" um Truss ausgeschlossen. Truss selbst erklärte, ohne Reibungen, ohne Brüche gehe es nun mal nicht.

Der ernüchternde Brexit

Was die 47-Jährige nicht erwartet hatte, war aber der Widerstand, den die "freien Märkte" ihrem finanzpolitisch unbekümmerten Kurs leisten würden. Ausgerechnet die von ihr gefeierten Kräfte des Kapitals setzten ihrer selbstproklamierten Mission ein jähes Ende. Jene hochfliegenden Träume, in denen Großbritannien sich für unverwundbar und gänzlich unabhängig hielt vom Rest der Welt, brachen so in den letzten Tagen laut krachend zusammen.

Inzwischen stehen die Konservativen in den Trümmern der Selbstgewissheit, die Liz Truss personifizierte. Die Bevölkerung, der nun in diesem Winter sehr harte Zeiten und enorme Belastungen drohen, zieht nicht mehr mit. Vielen Briten beginnt das Geld auszugehen. Erste negative Konsequenzen des Brexit, die man bisher zu ignorieren suchte, zeichnen sich in den Handelsbilanzen ab.

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Umfragen zufolge glauben heute schon sieben von zehn Brexit-Wählern, dass der EU-Austritt entweder keine Verbesserung gebracht hat oder sogar eine Verschlechterung für sie bedeutet. Spürbare Ernüchterung macht sich überall breit, unsanft hat sich die Realität auf den Britischen Inseln in Erinnerung gebracht. Und auch vielen Tories beginnt plötzlich bewusst zu werden, dass ihnen das Steuer entglitten ist.