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Mageres Ampel-Jahr

Von Alexander Dworzak

Politik

Die deutsche Regierung aus SPD, Grüne und FDP laboriert an den Folgen des Krieges in der Ukraine und hausgemachten Problemen.


Regierungen im deutschsprachigen Raum kommen kaum mehr ohne Motto aus. ÖVP und Grüne wählten 2020 "Aus Verantwortung für Österreich". Das klingt wenig euphorisch und daher stimmig bei zwei Parteien, die sich inhaltlich und habituell häufig fremd sind. Aufbruchstimmung wollten SPD, Grüne und FDP mit "Mehr Fortschritt wagen" erzeugen. Die Anleihe an Willy Brandts Ausspruch "Mehr Demokratie wagen" klang angesichts der im Dezember 2021 erwarteten Herausforderungen hochtrabend. Seit der Eskalation der Lage in Russland und dem von Präsident Wladimir Putin befohlenen Einmarsch in die Ukraine im Februar muss die erste Ampelkoalition auf Bundesebene Deutschland durch globale Krisen navigieren.

In den Augen der Bürger gelingt das schlecht. 61 Prozent bewerten deren Arbeit als negativ, nur 29 Prozent als positiv, ergab eine Umfrage für den "Spiegel". Je länger der Krieg dauert und die Inflation in die Höhe schnellt, desto mehr verliert Kanzler Olaf Scholz (SPD) an Popularität. Mitte März kam er auf fast 75 Prozent Zustimmung, zeigen Daten des ZDF-Politbarometers. Ende November hatte nur jeder zweite Befragte eine gute Meinung über ihn. Die SPD, bei der Bundestagswahl 2021 mit knapp 26 Prozent stimmenstärkste Partei, kämpft derzeit mit den Grünen um Platz zwei. Deutlich in Führung liegt die Union aus CDU und CSU.

Warten auf Waffen

Die Konservativen sind mitverantwortlich für das außenpolitische und außenwirtschaftliche Desaster, in dem Deutschland durch Putins Krieg steckt. Der Herrscher im Kreml wurde kolossal falsch eingeschätzt, billige Rohstoffe aus Russland überdeckten politische Gefahren. Diese Kritik an der 16 Jahre währenden Ära von Scholz’ Vorgängerin Angela Merkel gilt aber auch für viele führende Sozialdemokraten, allen voran Präsident Frank-Walter Steinmeier. Waffenlieferungen, um sich gegen den russischen Aggressor zu verteidigen, waren für Scholz’ Regierung erst kein Tabu mehr, als die Ukraine wider Erwarten nicht binnen Stunden kapitulieren musste. Zur Lieferung schwerer Waffen wie dem Flugabwehrpanzer Gepard rang sich die Ampel zwei Monate nach Kriegsbeginn durch.

Mit der "Zeitenwende"-Rede, drei Tage nach Kriegsbeginn, setzte Scholz aber einen mutigen Schritt. Die "Friedensdividende" nach dem Kalten Krieg war angesichts der neuen Bedrohungslage aufgebraucht. Sogar die über Jahrzehnte bündnisfreien Schweden und Finnen suchen den Weg in die Nato. Die marode deutsche Bundeswehr wird mit 100 Milliarden Euro an "Sondervermögen" aufgerüstet - unter Zustimmung der Grünen mit ihrer pazifistischen Tradition. Nicht Scholz, sondern Vizekanzler Robert Habeck stieg zum Gesicht der "Zeitenwende" auf. Der Grüne erklärte seine eigenen Phasen von Fassungs- wie Hilflosigkeit öffentlich und traf damit den Nerv des Publikums. Scholz passte das nicht, schließlich hatten die Deutschen ihn zum Wahlsieger gemacht, bei ihm "Führung bestellt", die er liefern wollte.

Trick der Sonderhaushalte

Gelegenheit, die Verhältnisse wieder zugunsten des Hanseaten zurechtzurücken, bot die Gasumlage. Im Sommer legte Habecks Ressort einen Vorschlag zur Stützung von Energieimporteuren vor. Weil die Gaspreise einen Höchststand nach dem nächsten erreichten, sattelte Scholz von der Belastung zur Entlastung der Verbraucher um. Als "Doppel-Wumms" verkaufte er eine bis April 2024 laufende Deckelung für Gas, Strom und Fernwärme. 200 Milliarden Euro werden dafür bereitgestellt. In der EU wird die Gaspreisbremse nicht gerne gesehen, insbesondere Italien kritisierte einen Wettbewerbsvorteil für deutsche Unternehmen durch niedrigere Energietarife.

Für drei Entlastungspakete seit März hat die Regierung weitere 97 Milliarden Euro ausgegeben, unter anderem für das Neun-Euro-Ticket für Bahn und Bus. Bürger sollten auf diese Weise zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel animiert werden. Finanziert wird die Gaspreisbremse über Kredite. Wie auch das "Sondervermögen" der Bundeswehr werden Sonderhaushalte gebildet und der Kernhaushalt wird nicht belastet. Finanzminister Christian Lindner kann dadurch verkünden, dass die Grenze der Neuverschuldung erstmals seit drei Jahren nicht überschritten wird. Ausgaben in Höhe von 476,3 Milliarden Euro sind 2023 vorgesehen, die Neuverschuldung beträgt 45,6 Milliarden Euro.

Diese Botschaft ist für Lindner zentral. Die kleinste der drei Regierungsparteien schafft es zumeist nicht, die Themen in der Koalition zu setzen. Dementsprechend dürftig fielen auch die Ergebnisse bei den drei Landtagswahlen 2022 aus. In Schleswig-Holstein verloren die Liberalen als einzige der drei Regierungsparteien, CDU und Grüne benötigen die FDP nicht mehr als Mehrheitsbeschaffer. Auch in Lindners Heimat Nordrhein-Westfalen sind die Freien Demokraten nicht mehr Regierungspartei. Und in Niedersachsen gelang im Oktober nicht einmal der Wiedereinzug in den Landtag.

Abgespeckte Sozialreform

Kurz danach musste Kanzler Scholz zum schärfsten Mittel seiner Regierungsführung greifen, der Richtlinienkompetenz. FDP und Grüne suchten den öffentlichen Streit zur Profilierung des eigenen Markenkerns und fanden ihn bei der Laufzeit der Atomkraftwerke. Bis April kommenden Jahres bleiben die drei Meiler am Netz, entschied Scholz. Absolute Gewissheit gibt es in Kriegszeiten jedoch nicht.

Für seine Kernklientel setzte der Kanzler die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde durch - ein zentrales Versprechen im Wahlkampf 2021. Auch die Abschaffung der Grundsicherung Hartz IV für Langzeitarbeitslose gelingt mit Jahreswechsel. Dafür kommt Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) beim sogenannten Bürgergeld der Union deutlich entgegen, die in der Länderkammer das Gesetz erst blockierte.

Für das zweite Jahr der Koalition hoffen viele bei Rot, Grün und Gelb, dass sich die Regierung selbst weniger im Weg steht.