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Die Verwundbarkeit der Seele als Einfallstor

Von Walter Hämmerle

Politik

Die psychologische Dynamik bei islamistischer Radikalisierung erklärt Psychoanalytiker Jean-Luc Vannier.


In Wien läuft derzeit der Prozess gegen die Unterstützer jenes islamistischen Attentäters, der am 2. November 2020 in der Innenstadt vier Menschen getötet und 23 verletzt hatte, bevor er von der Polizei erschossen wurde. Ähnliche Verfahren laufen auch in anderen europäischen Städten. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem französischen Psychoanalytiker und Experten für islamistischen Terrorismus, Jean-Luc Vannier, darüber, was in der Psyche solcher Gewalttäter vor sich geht.

"Wiener Zeitung": Worin liegt die Attraktivität einer islamistischen Weltanschauung für Menschen, die in westlich-liberalen Staaten leben?

Jean-Luc Vannier: Attraktivität ist ein falscher Begriff, denn wir haben es nicht bloß mit einer Spielart des Begehrens zu tun. Meiner Überzeugung nach beruht der Eintritt in den Islamismus in Wirklichkeit auf einem psychischen Rettungsmechanismus. Wo Philosophen vom "Bedürfnis nach Sinn" sprechen, erkennen Psychoanalytiker wie ich eher den Rückgriff auf strukturgebende Hilfsmittel angesichts eines Prozesses, der vom Identitätsverlust bis hin zur drohenden psychischen Zerspaltung reicht. Die resultierende "Weltanschauung" ist somit alles andere als das Produkt mündig und bewusst angestellter Überlegungen, sondern entspricht einer nachträglichen Rechtfertigung des Terroristen.

An welchen Teilen unseres Persönlichkeits- und Bewusstseinsbildes dockt diese Haltung an?

Das Bewusstsein hat damit nur wenig zu tun. Im Jahr 2003 haben Soziologen dänischstämmige Frauen, die in großer Zahl zum Islam konvertiert waren, über deren Gründe des Übertritts befragt. Es ging den Betroffenen um die "Regelung der Beziehung zwischen Mann und Frau", die Einhaltung dieser "sichtbaren Pflichten" und um die Zufriedenheit, "in einer Gemeinschaft integriert zu sein". Hier wird also die psychische und unbewusste Bedeutung dieser Unterwerfung unter Vorschriften und Verbote betont - und auch deren infantile Dimension, an die der Psychoanalytiker Daniel Lagache erinnert, wenn er von einer "Befriedigung" spricht, "das Objekt der Allmacht des anderen zu sein". Hier gibt es eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Kommunitarismus und einigen Moden der kulturellen, sexuellen oder ernährungstechnischen Gettoisierung, die alle darauf abzielen, die immer schwerer zu tragende psychische Individualität in einer anonymen Masse aufzulösen.

Islamistische Ideologie ist das eine, was aber führt die Betroffenen zu einer dezidiert gewaltbereiten Haltung?

Die Frage muss umgekehrt gestellt werden: Es ist eine innere Gewalt, eine fast unkontrollierbare Triebzerrüttung, die einen Menschen dazu drängt, sich anhand eines völlig verriegelten Denksystems zu radikalisieren. Eine Interpretation nach freier Entscheidung würde die beabsichtigte Wirkung zunichtemachen. Das "Subjekt", sofern in diesem Stadium überhaupt noch von einem solchen gesprochen werden kann, schöpft aus der islamistischen Ideologie einen Notbehelf, um die unkontrollierte Gewalt einzuschränken, die sich in den Biografien zahlreicher Dschihadisten zeigt. Diese Zügelung zeigt sich dann in Kleinkriminalität, Sucht nach psychoaktiven Substanzen und sogar in sexuellen Genussformen, wobei man dabei auch gewisse Züge einer Perversion im klinischen Sinne nicht ausschließen kann.

Gibt es Unterschiede in der "Anfälligkeit" für eine islamistische Gewaltbereitschaft zwischen Jüngeren und Älteren, Männern und Frauen, autochthonen Österreichern und Migranten?

Jean-Luc Vannier ist Psychoanalytiker, der sich an der Universität Nizza mit dem Schwerpunkt Islamismus und Terrorismus beschäftigt und international als Berater arbeitet.

Das ist eine sehr weit gefasste Frage. Neuere Entwicklungen zeigen, dass dschihadistische Anwerber heute viel Zeit in TikTok investieren. Hier erreicht eine neue Generation muslimischer Influencer ein beträchtliches jugendliches Publikum mit ultrakurzen Videos. Diese zielen auf die sogenannte persönliche Entwicklung. So werden nicht mehr ausschließlich psychisch Notleidende, sondern auch ganz normale Jugendliche zur Zielgruppe der Anwerber. Zurückzuführen ist das nicht zuletzt auf die für dieses Alter typische Suche nach Identifikation, die oft von Heldentum sowie dem Einsatz für einen höheren Zweck geprägt ist. Ein solcher Zweck ist bezeichnend für das fast psychotische Moment, welches das Heranwachsen darstellt. Die französischen Behörden brauchten fünf Jahre, um den Begriff der "psychischen Verwundbarkeit" als "Ursache der Anfälligkeit für islamistische Radikalisierung" im Gesetz zur Terrorismusprävention zu verankern.

Wie sollte eine Gesellschaft, wie ein Staat mit seinen Sicherheitsstrukturen auf dieses Gefährdungspotenzial reagieren?

Wenn ich mit israelischen Bürgern, die in Nizza leben, spreche, sind diese erstaunt über den Dilettantismus und die - vor allem mentale - Unvorbereitetheit der Franzosen angesichts der Gefahr. Es fehlt ein allgemeines Bewusstsein, das sich in alltäglicher Wachsamkeit niederschlägt. Die behördlichen Sicherheitsdienste sind weder allein verantwortlich noch im Stande, die Sicherheit aller und zu jedem Zeitpunkt zu gewährleisten. Hinzu kommt in Frankreich eine spezifische Form der politischen Feigheit, die darauf abzielt, gewisse Aspekte der Terrorismusproblematik zu leugnen. Dies mit dem Ziel, durch eine beschwichtigende Rhetorik einen äußerst fragilen sozialen Frieden, insbesondere in den Vororten der Großstädte, zu erhalten. Und dann gibt es das noch viel umfassendere Problem, dass es Gerichtsurteilen immer weniger gelingt, die symbolisch wichtige Balance zwischen der Schwere einer kriminellen Handlung und der damit verbundenen Strafe sicherzustellen. Das mag im Lichte der rekordbrechenden Überbelegung in französischen Gefängnissen erklärbar sein, stellt aber trotzdem ein fatales Versäumnis dar. Schon 1951 bekräftigte der Psychoanalytiker Jacques Lacan, dass "ein Individuum von seinen Mitmenschen anerkannt wird, indem es die Verantwortung für seine Handlungen übernimmt". Hierin wird sowohl die Stärke als auch Schwäche alter, saturierter Demokratien deutlich.

Ist Deradikalisierung möglich - und wenn ja, wie konkret und für wen?

Ich spreche dieses Thema oft an, zuletzt vor Beamten der Wega in Wien und an der Akademie der Polizei Hamburg. Ein französischer Geheimdienstexperte hat mich darauf hingewiesen, dass Paris alle diesbezüglichen Bemühungen aufgegeben habe und sich nur noch auf die Aufdeckung und Prävention konzentriere. Das überrascht nicht, da die zahlreichen Bemühungen in diese Richtung kaum von Erfolg gekrönt waren. Ein Grund dafür ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass wir - bislang jedenfalls - diese bereits erwähnte psychische Verwundbarkeit, die eine Radikalisierung erst ermöglicht, übersehen haben. Versuche, durch intellektuelle, auf das "Ich" oder das Bewusstsein einwirkende Diskussionen, etwa mit Koran-Kennern, eine Bewusstseinsbildung herbeizuführen, blieben erfolglos. Auch mager- oder drogensüchtige Personen werden schließlich nicht dadurch geheilt, dass man ihnen im Gespräch erklärt, wie sehr dieses Verhalten ihrer Gesundheit schadet, selbst wenn man ihnen die medizinischen Argumente vorlegt. Die "politische Etappe" der Deradikalisierung entspricht keineswegs dem gesamten psychischen Prozess, der sich dabei vollziehen muss.