Kurz vor neun Uhr morgens geht es schnell: Polizisten mit Helmen und Schilden stürmen über den Wall, hinter dem sich Klimaaktivisten aufgebaut haben. Es gibt einige Rangeleien, dann weichen die Frauen und Männer in den weißen Maleranzügen zurück. Minuten später ziehen lange Polizeikolonnen in Lützerath ein, das die Aktivisten viele Wochen lang verteidigen wollten. Das Einzige, was man zeitweise hört, ist die Musik eines alten Klaviers, an dem ein vermummter junger Mann spielt.
Der Energiekonzern RWE will Lützerath abreißen, um die darunter liegende Kohle abzubauen. Denn die ehemalige Siedlung grenzt an das Braunkohlerevier Garzweiler. Auf rund 35 Quadratkilometern Betriebsfläche werden dort circa 25 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr gefördert. Bereits 1995 sei der Tagebau Garzweiler genehmigt worden, betont RWE am Mittwoch. Die Absiedlung der Einwohner Lützeraths sei schon 2017 abgeschlossen worden. Es handelte sich um knapp 100 Personen.
Ihre Häuser besetzten Klimaaktivisten. Laut dem Aachener Polizeipräsidenten Dirk Weinspach handelt es sich um eine "gemischte Szene", die überwiegend "bürgerlich und friedlich orientiert" sei. Eine christliche Gruppe stimmt inmitten von flackernden Kerzen ein Kirchenlied an: "Von guten Mächten wunderbar geborgen..." Die schmiedeeisernen Gitter hinter den Sängern sind Reste einer alten Kapelle und erinnern daran, dass Lützerath seit dem frühen Mittelalter besiedelt ist. Ein kleiner Teil der Demonstranten sei aber zu Gewaltstraftaten bereit, sagt Polizeipräsident Weinspach. Mehrfach fliegen am Mittwoch Steine, Böller, Flaschen und Molotowcocktails in Richtung der Exekutive, die mit hunderten Beamten angerückt ist.
Manche Demonstranten wollen mit allen Mitteln erreichen, dass "Lützi bleibt" – wie einst galt: "Hambi bleibt". Der ebenfalls in Nordrhein-Westfalen gelegene Hambacher Forst, ein Wald mit bis zu 350 Jahre alten Bäumen und seltenen Tierarten, wurde 2018 geräumt. Das Oberverwaltungsgericht Münster erließ jedoch einen vorläufigen Rodungsstopp. Die Erhaltung des Waldes wurde beschlossen.
Früherer Kohleausstieg für Abbau in Lützerath
Der grüne Vizekanzler Robert Habeck bemüht sich nun, keine Parallelen zwischen den beiden Orten aufkommen zu lassen: "Die leergezogene Siedlung Lützerath, wo keiner mehr wohnt, ist aus meiner Sicht das falsche Symbol." Als der Hambacher Forst gerodet werden sollte, saßen die Grünen sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch im Bund auf der Oppositionsbank. Mittlerweile sind sie in beiden Fällen auf die Regierungsseite gewechselt. Habecks Ministerium und das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium, geleitet von der Grünen Mona Neubaur, schlossen im vergangenen Oktober mit RWE einen Kompromiss: Der Konzern zieht seinen Kohleausstieg um acht Jahre vor, auf 2030. Das entspreche einer Halbierung der bisher vorgesehenen Laufzeit von Kohlekraftwerken des Unternehmens, so RWE. Fünf Ortschaften und drei Höfe werden dadurch nicht dem Bergbau geopfert. Auf Lützerath könne RWE aber nicht verzichten. Dessen Kohle "wird hingegen benötigt, um die Braunkohlenflotte in der Energiekrise mit hoher Auslastung zu betreiben und so Gas bei der Stromerzeugung in Deutschland einzusparen". Ein gewichtiges Argument seit Russlands Krieg in der Ukraine und den hohen Gaspreisen.
Klimaaktivisten verweisen auf eine Studie von Wissenschaftern der "CoalExit Research Group", wonach die Kohle im aktuellen Abbaubereich ausreiche – auch unter den Bedingungen der durch den Krieg ausgelösten Energiekrise. Dieser Lesart zufolge hat es RWE vor allem auf Lützerath abgesehen, weil sich die Kohle dort leichter und damit profitabler gewinnen lässt.
Klimaaktivistin Luisa Neubauer wirft den Grünen – bei denen sie selbst Mitglied ist – eine "kalkulierte Unterwanderung der Pariser Klimaziele" vor. Sie stellt damit einen Kernwert der Partei infrage. Prominente Unterstützung erhält Neubauer am Samstag, Greta Thunberg hat ihre Teilnahme an den Protesten angekündigt. (apa/dpa/da)